Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben
Fernsicht nicht optimal ist, das Panorama um uns herum ist imposant. Der Horizont verliert sich in hunderten Berggipfeln. Unter uns glitzert das Wasser des Königssees. Er scheint eine kleine Unendlichkeit entfernt. Nachdem mein Atem zur Ruhe gekommen ist und auch mein Herz nicht mehr wie wild in meiner Brust pocht, bin ich überwältigt von der majestätischen Stille, die hier oben herrscht. Es heißt, an einem großen Ort kommen einem große Gedanken – die einzigen Gedanken aber, die mir durch den Kopf gehen, lauten: Wie um alles in der Welt komme ich hier wieder lebend runter? Und wieso bin ich überhaupt hierherauf gekommen?
1. Kapitel: In welchem ein Berliner eine folgenschwere Entscheidung über einen Umzug trifft und einem Kind eine Überraschung versprochen wird
Neun Monate zuvor:
»Müssen wir wirklich fahren?«
Es war nicht schwer, die Frage in Oskars großen braunen Augen zu lesen. Es brach mir fast das Herz. Für ihn würde der Umzug am schwersten werden. Drei Wochen lang hatten wir alle gemeinsam beratschlagt, ob ich das Angebot, in München für einen Verlag zu arbeiten, wirklich annehmen sollte. Für Francesca, meine Frau, war die Entscheidung einfach gewesen: Die Entfernung zwischen Berlin und Florenz betrug 1400 Kilometer. München dagegen lag »nur« 800 Kilometer entfernt. Die Aussicht, nur noch 800 Kilometer von »La Mamma« entfernt zu leben, weckte den für sie typischen Tatendrang. Am liebsten hätte sie sofort angefangen, die Kisten zu packen. Der Ruf Münchens als nördlichste Stadt Italiens tat ein Übriges. Oskar fiel es dagegen ungleich schwerer, der Stadt den Rücken zu kehren. Schließlich konnte er, wie einst John F. Kennedy, von sich behaupten: »Ich bin ein Berliner.« Er war hier geboren. Gerade erst hatte er sich in seinem Kindergarten so richtig eingelebt und jede Menge nette und auch jede Menge weniger nette neue Freunde gefunden.
Francesca war also für den Umzug. Oskar dagegen. Die Entscheidung lag also ganz allein bei mir. Meine Stimme würde den Ausschlag geben. Und so wie es aussah, würden wir wohl fahren. Ich war es Francesca schuldig. Neun Jahre hatten wir nun schon zusammen in Berlin gelebt, in der Stadt, in der ich groß geworden und aufgewachsen war. Aber war das überhaupt noch meine Stadt? In der Zeit nach dem Mauerfall hatte sich Berlin rasant entwickelt. Vor allem der Ostteil der Stadt, in dem ich aufgewachsen war, war kaum mehr wiederzuerkennen. Überall wurde gebaut, renoviert, jedenfalls dort, wo es sich lohnte. Ständig gab es etwas Neues zu entdecken. Doch es gab Tage, an denen hatte ich das Gefühl, dass ich mit dem Tempo, in dem sich Berlin veränderte, nicht mehr mithalten konnte; dass mir die Stadt und mein Gefühl für sie einfach mit jedem neuen Gebäude verbaut wurden.
Francesca hatte sich von Anfang an mit dem Leben in Berlin schwergetan. Sie war nach ihrem Studium in Italien für ein halbes Jahr in die Stadt gekommen, um mal etwas anderes zu sehen. Wir lernten uns im Kino kennen. Dabei ist »Kill Bill« wahrscheinlich nicht unbedingt der Film, bei dem ein Mann es sich erträumt, die Liebe seines Lebens zu finden.
Sie war wunderschön, saß in der Reihe links vor mir, und spätestens ab der Szene, in der Uma Thurman Lucy Lius Leibgarde, die Verrückten 88, zerlegt, war ich in sie verliebt. Warum? Weil Francesca weder zur anwesenden Fraktion der männerhassenden Kampflesben noch zur Fraktion der schreckhaften Hühner zählte, die bei jedem Blutspritzer ihre Hände in der Brust ihrer Freunde vergruben oder sich mit unterdrückten Schreckenslauten vom Geschehen auf der Leinwand abwandten, das blutiger war als eine Schlachthof-Doku. Francesca wandte sich keine Sekunde lang ab. Offensichtlich war sie eine Frau, die bereit war, dorthin zu gehen, wo’s richtig wehtut. Zum Beispiel zu mir!
Ich hatte mich nicht getäuscht. Nachdem ihr halbes Berlin-Jahr rum war, zogen wir zusammen. Ein paar Jahre später kam unser Sohn Oskar zur Welt.
Francesca war mit großen Erwartungen nach Berlin gekommen. Doch Berlin war größer. In den letzten Monaten hatte sie mich immer wieder gefragt, ob ich es mir nicht vorstellen könnte, woanders zu leben. Zuerst hatte ich ihr Ansinnen kategorisch ausgeschlossen. Woanders? Woanders klang für mich wie Mülldeponie. Doch je öfter wir uns darüber unterhielten, desto schwächer wurde meine Verteidigung. Wohl auch wegen meines Gefühls, dass Berlin nicht mehr meine Stadt war. Ganz nach Italien zu ziehen, das konnten wir
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