Schleichendes Gift
verbringen. Außerdem würde sie in der Lage sein, sich im Amatis blicken zu lassen. Vielleicht würden sie Glück haben und eine zweite Identifizierung zu dem Foto bekommen. Ganz sicher würde damit etwas von dem Gefallen beglichen, den Chris Devine ihr getan hatte. Für Paula, die immer lieber Schuldner hatte, als jemandem selbst etwas zu schulden, war das gar keine Frage.
Mitternacht
W ürde er wissen, dass sie so viel Zeit hier verbracht hatte? Würde ihre Anwesenheit ein Zeichen hinterlassen? Würde er sich wie einer der drei Bären an sie wenden und fragen: »Wer hat auf meinem Stuhl gesessen?« Carol war zwar blond, aber Goldilocks war sie nicht. Sie leerte ihr Glas Wein und nahm die Flasche, die praktischerweise in Reichweite auf dem Boden stand. Hier zu sein hatte etwas Tröstliches. Obwohl Carol gerade einen Verdächtigen verhaftet hatte, der Tonys Überzeugungen im Mordfall Robbie Bishop widersprach, fühlte sie sich in ihrer professionellen Einschätzung der Situation sicher.
Es war eher ihr privates Gefühlsleben, das ihr Probleme bereitete. Es war leicht, sich ihrer Gefühle sicher zu sein, wenn er nicht da war. Er fehlte ihr, sie konnte über jedes beliebige Thema mit ihm eine Unterhaltung führen und sich den wechselnden Ausdruck auf seinem Gesicht vorstellen. Fast konnte sie es sogar wagen, an das Wort zu denken, das mit L begann. Aber wenn sie zusammen waren, verschwand all ihre Gewissheit. Sie brauchte ihn zu sehr, und die Sorge, etwas zu tun oder zu sagen, das einen Keil zwischen sie treiben würde, bestimmte maßgeblich alle ihre Überlegungen. Und damit waren die ungesagten und ungetanen Dinge sehr wichtig bei allem, was sie sagten und taten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich davon lösen konnte. Und sie hatte den Verdacht, dass Tony trotz all seines professionellen Wissens in diesem entscheidenden Punkt auch nicht klüger war als sie.
Tony lag bei ausgeschaltetem Licht und offenen Vorhängen in seinem Krankenhauszimmer. Die dicken Wolken warfen den Widerschein des Lichts über die Stadt zurück und nahmen der Dunkelheit ihre Intensität. Er war vorhin eingeschlafen, aber das hatte nicht lange angehalten. Er wollte lieber zu Hause in seinem eigenen Bett liegen. Oder, wenn er bedachte, wie unmöglich ihm das Erklimmen der Treppe noch schien, doch zumindest auf seinem eigenen Sofa. Niemand würde ihn um sechs mit einer Tasse Tee wecken, die er sowieso nicht wollte. Niemand würde Urteile über ihn fällen, die sich auf seinen Geschmack in Sachen Boxershorts stützten. Niemand würde ihn wie einen Fünfjährigen behandeln, der nicht in der Lage war, selbst Entscheidungen zu treffen. Und vor allem würde niemand seiner Mutter die Tür öffnen.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus und fühlte sich hohl und leer. Aber was machte er sich denn vor? Zu Hause wäre er genauso ruhelos und unglücklich wie hier. Was er brauchte, war Arbeit. Das war es, was ihn in Schwung brachte und seine Psyche in einen erträglichen Zustand versetzte. Ohne Arbeit, ohne Ziel bewegten sich seine Gedanken wie ein Hamster auf dem Laufrad, kreisten und tanzten zwecklos und ohne Möglichkeit, irgendwo anzukommen. Wenn er arbeitete, konnte er bis auf eine ganz oberflächliche Beschäftigung mit Carol Jordan und seine Gefühle für sie all dies vermeiden. Früher mochte es einmal eine schwache Hoffnung gegeben haben, dass sie sich zusammen eine Zukunft aufbauen könnten. Aber die Umstände und seine Reaktionen darauf hatten diese Chance zunichte gemacht. Hatte es jemals wirklich eine Möglichkeit für sie gegeben, ihn zu lieben, war das inzwischen Geschichte.
Und wahrscheinlich war es für alle Beteiligten besser so. Besonders jetzt, da seine Mutter wieder auf der Bildfläche erschienen war.
Ein beharrlicher, tiefer Basston schien sich in Chris’ Oberschenkeln festgesetzt zu haben. Mit jedem Schlag zogen sich ihre Muskeln etwas zusammen und ließen ihre Knochen vibrieren. Sie schwitzte an Stellen, von denen sie gar nicht wusste, dass man dort schwitzen konnte, und ihr Herzschlag hatte wohl einen Gang höher geschaltet. Komisch, wenn sie zum Spaß in Clubs ging, bemerkte sie solche Reaktionen nie. Sie war dann so in den Beat vertieft, so darauf fixiert, sich mit Sinead oder wem auch immer zu amüsieren, und so offen für alle Möglichkeiten des Abends, dass sie die Beklemmung nicht fühlte, die die Musik heute Abend in ihr auslöste.
Sie bewegte sich am Rand der Tanzfläche zwischen den Tanzenden hindurch, begann
Weitere Kostenlose Bücher