Schleichendes Gift
damit, ihren Dienstausweis vorzuzeigen, dann die Fotos auseinanderzufächern, hielt die Tanzenden an und ließ sie die Bilder betrachten. Einige musste sie an den T-Shirts packen oder ganz nah an die herangehen, die zu widerspenstig oder zu high waren, um zu kooperieren. Hin und wieder erhaschte sie einen Blick auf Kevin oder Paula, die genauso vorgingen wie sie.
Hut ab vor Paula, dass sie zurückgekommen war. Chris war überrascht gewesen, als sie sah, wie sich die junge Beamtin durch die Menge an der Bar schob, aber als sie von ihrem Erfolg in Dore erfuhr, war sie noch dazu verdammt froh. Zuvor hatte sie gehört, dass Carol und Sam Rhys Butler verhaftet hatten. Sie hatten jetzt also zwei Richtungen, in die sie ermitteln konnten. So oder so würde die Ermittlung zu Robbie Bishops Mörder den Schwung bekommen, den sie brauchte.
Sinead hätte eigentlich das Wochenende bei ihren Freunden in Edinburgh bleiben können, dachte Chris. So wie die Dinge liefen, sah es nicht so aus, als würde sie in der näheren Zukunft viel Freizeit haben. Aber, nun ja, so war das eben in diesem Beruf. Und die von Carol Jordan in die Arbeit der Spezialeinheit eingebaute Flexibilität bedeutete, dass sie mehr Phasen des Stillstands hatte als je zuvor in ihrer Zeit bei der Polizei.
Dabei war nur eines bedauerlich. Sie kannte keinen höheren Kriminalbeamten, dem sie mit Respekt begegnete, der nicht eine ähnlich schwere Belastung trug. Als sie vorhin mit Paula gesprochen hatte, war das alles wieder hochgekommen. Chris hatte einmal mit einer jungen Kripobeamtin zusammengearbeitet, die absolut brillant hätte werden können – wenn sie lange genug gelebt hätte, um es ins Sondereinsatzkommando zu schaffen. Eine Polizistin, die gerade anfing aufzusteigen, als ein Mistkerl ihr die Flügel für immer stutzte. Eine Frau, die Chris mehr geliebt hatte, als gut war, und doch hatte sie es nicht verhindern können. Ein Tod, für den sie einen Teil der Verantwortung zu tragen hatte. Eine Lücke, die sich niemals schließen würde und die sie auszufüllen versuchte, indem sie ihre Arbeit so gut wie irgend möglich verrichtete.
»Du blöde sentimentale Kuh«, murmelte Chris halblaut vor sich hin. Sie nahm die Schultern zurück und trat einem weiteren Tänzer in den Weg. Es war egal, für wen man es tat. Wichtig war nur, dass man es tat.
Wirre Programmbruchstücke liefen über den Monitor. Algorithmen wirkten ständig auf die Daten ein, entdeckten den Schlüssel und gaben den Zahlenreihen wieder Bedeutung. Stacey lehnte sich zurück und gähnte. Sie hatte alles Menschenmögliche mit Robbie Bishops Festplatte angestellt, jetzt kam es auf die Rechner an.
Sie stand von ihrem ergonomisch geformten Bürostuhl auf und streckte die Arme über den Kopf, wobei sie das Knirschen und Knacken in Nacken und Schultern spürte. Dann ging sie leicht gebückt zum Fenster hinüber, bewegte Muskeln und Gelenke, die zu lange in der gleichen Stellung verkrampft gewesen waren, und schaute auf die Stadt hinunter. So viele Menschen so spät nachts noch auf den Straßen, die hoffend, suchend und verzweifelt da draußen ihre Bedürfnisse zu befriedigen wünschten.
Stacey wandte sich ab. So war das eben, wenn man bedürftig war. Freitagnacht in Temple Fields, arme Menschen auf der Suche nach etwas, das ihnen half, die Nacht zu überstehen. Wenn sie Pech hatten, gerieten sie in eine dieser rücksichtslosen Beziehungen hinein, die so viel Kraft und Mittel aufzehrten.
Sie hatte zu viele Menschen auf diese Weise untergehen sehen. Gute Leute, die Außergewöhnliches zu geben hatten. Aber diese emotionalen Koabhängigkeiten hatten sie immer wieder kaputt gemacht. Wenn sie es mit Sam Evans hinbekäme, würde es niemals eine solche kannibalistische, aufzehrende Beziehung werden. Weil sie das eine wusste: Sie würde da nicht mitmachen. Niemand würde es schaffen, sich zwischen sie und ihre Geheimnisse, die sie ergründen, und die Lösungen, die sie finden wollte, zu drängen.
Ihre Eltern hatten sich gewünscht, sie würde heiraten und Kinder bekommen. Sie hatten die merkwürdige Idee, dass zuerst Stacey und dann ihr Mann, später ihre Kinder das Familienunternehmen, bestehend aus chinesischen Supermärkten und Lebensmittelketten, übernehmen sollten. Nie hatten sie begriffen, wie sehr ihr Schicksal sich davon unterschied. Keine Ehe sollte sie von ihren Rechnern trennen. Wenn ihre biologische Uhr nach Kindern verlangte, gab es Mittel und Wege, dies zu bewerkstelligen, und genug
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