Schleichendes Gift
nicht haben, ist auch ’n Becher Bauarbeitertee okay.«
»Was ist passiert?«
»Ich hatte gerade meine Befragungen mit dem Personal der VIP-Loge zu Ende gebracht, da kam ein Dutzend von ihnen hereingestürmt. Man hört sie ja schon vom nächsten Korridor aus.«
»Das ist wegen der Stiefel«, sagte Carol und goss Wasser auf die Teebeutel.
»Wegen der Stiefel und ihrer muskelbepackten Schenkel, die aneinanderreiben. Sie kommen also rein, und sobald sie mich sehen, heißt es: ›Verschwinde hier, Schätzchen‹, als ob ich ’ne Journalistin oder so was wäre. Ich war schneller draußen, als man ›Faschisten in Springerstiefeln‹ sagen kann. Aber bevor sie mich hierher zurückkommen ließen, musste ich mich hinsetzen und meine Befragungen tippen. Als ob ich mich davonschleichen und es ihnen verwehren würde, einen Blick auf meine Hausaufgaben zu werfen.« Sie schüttelte den Kopf. »Als ich hier hoch nach Bradfield kam, hab ich gedacht, ich hätte diese Arschlöcher vom SO12 hinter mir gelassen.«
Carol reichte ihnen den Tee. »Wir müssen kooperieren«, erklärte sie. »Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch unsere eigenen Ideen weiterverfolgen können.«
»Apropos, wo ist denn der Rest des Teams?«
»Paula und Kevin sind unterwegs, gehen dem A1-Electricals-Wagen nach und versuchen, dem CTC-Kommando zuvorzukommen. Die Leute sind ja meist recht zugeknöpft, wenn die Männer in Schwarz die Türen eintreten«, berichtete Carol. »Ich weiß nicht genau, was Sam macht. Als ich ihn letztes Mal sah, kümmerte er sich um die Überwachungskameras in der Vestey-Tribüne.«
»Er wird wieder irgend’ne heiße Spur verfolgen, von der er uns Dummköpfen nichts sagen will«, meinte Chris trocken.
»Er schadet sich nur selbst«, sagte Stacey, ohne aufzusehen. »Und tut das alles aus den richtigen Gründen.«
Chris und Carol tauschten einen Blick. Niemand konnte sich erinnern, dass Stacey je zu einem ihrer Kollegen einen Kommentar abgegeben hatte. Ihre notorische Ablehnung gegenüber jedem Tratsch war bekannt. »Später« wisperte Chris leise und verschwörerisch zu Carol. Sie nahm einen Schluck Tee und atmete tief ein. »Ich sag euch, so etwas will ich nie wiedersehen. Ich kann es immer noch nicht fassen, was für ein Blutbad das war. Fünfunddreißig Tote, sagt man. Ich hätte nie gedacht, dass ich in Bradfield so etwas erleben würde.«
»Es ist ja erstaunlich, dass es nicht mehr sind«, überlegte Carol. »Wenn er die Bombe an der entsprechenden Stelle in der gegenüberliegenden Tribüne gelegt hätte, wo es nur Sitze gibt statt VIP-Logen, wären Hunderte gestorben.« Sie schloss einen Moment die Augen. »Es ist zu schrecklich, sich das vorzustellen.«
»Es wären auch mehr, wenn die Leute sich nicht so klug verhalten hätten. Ich hätte mehr Verletzungen durch das Gedränge erwartet. Ich weiß, dass es ein Klischee ist, aber ich sag euch, bei solchen Gelegenheiten kommt das Beste in den Menschen zum Vorschein. Habt ihr die Frau in der Grayson Street gesehen, die vor ihrem Haus einen Tisch aufgestellt hatte und den Leuten Tee ausschenkte? Der gleiche Geist wie damals bei den Luftangriffen und so.«
»Manchmal werden gerade die Leute zu Helden, von denen man es am wenigsten vermutet hätte«, sagte Carol. »Ich hab heute Nachmittag einen Mann gesehen, den einer der Sanitäter zu einem Krankenwagen brachte, der sich zu viel zugemutet hatte, als er die Leute aus den Trümmern holte. Und ich kannte ihn. Er war früher bei der Polizei, bis er aus dem Verein rausgeflogen ist, weil er bei Ermittlungen zu einem Mordfall jemandem Beweismaterial untergeschoben hatte. Er ist der letzte Mensch, dem ich es zugetraut hätte, dass er irgendjemandem außer sich selbst helfen würde. Ich nehme an, dass wir alle fähig sind, uns anständig zu verhalten.« Sie lächelte ironisch. »Außer vielleicht den Männern in Schwarz.«
Wie gerufen streckte einer von denen den Kopf durch die Tür. »Gibt es hier irgendwo eine DCI Jordan?«
»Das bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Sie werden in der Scargill Street verlangt. Ein kleines Problem mit einem Ihrer Jungs.« Er begann sich zurückzuziehen, aber Carol hielt ihn mit einem Blick fest, der selbst Wolfram zerfressen hätte.
»Wer verlangt mich?«
»Wer immer dort die Verantwortung hat. Hören Sie, ich überbringe nur die Nachricht, ja?« Er schnaufte und verdrehte die Augen. »Ich weiß auch nicht mehr als Sie.«
»Ich trink jetzt erst meinen verdammten Tee«, murmelte Carol.
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