Schleichendes Gift
ausgebildet, darauf zu achten. Eigentlich nicht. Deshalb finde ich es sehr merkwürdig, in einer Woche zwei Fälle vorsätzlicher Vergiftung zu entdecken. Zuerst dachte ich, es sei Einbildung. Aber es war nicht so. Tom Cross wurde vorsätzlich mit einem Herzglykosid vergiftet.«
»Können Sie das bitte buchstabieren?« Paula zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Und können Sie mir dann sagen, was es ist?«
Elinor nahm ihr das Notizbuch ab und schrieb es auf. »Ein Herzglykosid ist eine in der Natur vorkommende Substanz, die sich im Allgemeinen in Pflanzen findet. Sie wirkt sich vor allem auf das Herz aus, ob günstig oder nicht, das hängt von dem entsprechenden Glykosid und der Dosis ab. Ein Beispiel dafür ist Fingerhut, aus dem Digoxin gewonnen wird. Es wird als Herzmittel genutzt, aber die falsche Dosis bringt einen um.« Sie gab Paula mit einem Lächeln das Notizbuch zurück.
»War es also das, was Tom Cross getötet hat? Fingerhut?«
»Nein. Was ihn umbrachte, war Oleander.«
»Oleander?«
»Sie haben wahrscheinlich schon einmal bei einem Auslandsurlaub welchen gesehen. Eine buschige Staude mit schmalen Blättern, und die Blüten sind rosa oder weiß. Er ist ziemlich häufig und sehr giftig. Ich habe nachgeforscht. Es gibt eine Geschichte, dass Napoleons Soldaten Oleanderzweige als Spieße zum Fleischbraten nahmen, und am nächsten Morgen waren sie alle tot. Es gibt ein Gegenmittel, aber die Patienten sterben oft, bevor sie so viel davon aufnehmen können, dass es den entscheidenden Unterschied macht. Und um ehrlich zu sein, wenn man das Alter und Gewicht von Tom Cross bedenkt, war sein Herz wahrscheinlich sowieso in keinem sehr guten Zustand. Er hatte keine große Chance. Es tut mir leid. Ich weiß, dass er früher Polizist war.«
»Ich kannte ihn nicht, als er noch bei der Polizei arbeitete«, erwiderte Paula. »Aber meine Chefin schon. Also, Dr. Blessing …«
»Elinor. Sagen Sie doch bitte Elinor.«
Flirtete sie? Paula war zu müde, um es herauszufinden. Oder ehrlich gesagt, auch zu müde, um sich etwas daraus zu machen. Heute Abend wollte sie nur die Tatsachen, damit sie nach Hause gehen und schlafen konnte. Der Kaffee wirkte offenbar nicht. Sie unterdrückte ein Gähnen. »Also, Elinor, haben Sie irgendeine Ahnung, wann dieses Gift verabreicht worden sein könnte? Und wie?«
»Es wirkt recht schnell. Er sagte, er hätte während des Fußballspiels Magenkrämpfe und zweimal Durchfall gehabt. Während er noch klar im Kopf war, berichtete er, er hätte nach dem Mittagessen angefangen, sich schlecht zu fühlen. Er hatte Lammkebab mit Reis und einer Kräutersoße gegessen. Da gibt es gleich zwei mögliche Quellen von Oleandrin. Das Lamm hätte mit Oleanderblättern mariniert sein können oder mit Auszügen aus Oleander. Außerdem hätten die Zweige beim Grillen als Spieße dienen können. Wie in der Geschichte.« Sie schüttelte den Kopf. »Schrecklich. Eine so heimtückische Art und Weise, jemanden zu töten. So ein Vertrauensbruch.«
»Hat er gesagt, wo er zu Mittag gegessen hat?«
»Er erzählte, jemand hätte das Essen für ihn gekocht. Ich vermute also, dass er bei jemandem zu Hause war.« Elinor rieb sich den Nasenrücken, während sie angestrengt überlegte, was Tom Cross gesagt hatte. »War es Jack …? Nein, nicht Jack. Jake. Das war’s: Jake.«
Plötzlich war Paula hellwach, in ihrem Gehirn ergaben sich blitzschnell neue Verbindungen. »Sie sind sicher, dass es Jake war und nicht Jack?«
Elinor schien unsicher und kaute auf ihrer Unterlippe. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Jake war. Aber ich könnte mich irren.«
Harriestown High, dachte Paula. Jack Anderson. Robbie Bishop, Danny Wade und jetzt vielleicht Tom Cross. War das der Zusammenhang, der sie verband? Aus der Schulzeit konnten sie sich bei dem Altersunterschied nicht kennen. Aber vielleicht gab es eine Organisation ehemaliger Schüler, der sie alle angehörten. Oder eine Gelegenheit, bei der sie alle etwas mitbekamen, was sie nicht hätten sehen sollen? »Sie haben mir sehr geholfen«, sagte sie leise.
»Wirklich?«
»Sie ahnen gar nicht, wie«, versicherte Paula. Jetzt war sie hellwach. Sie wusste, dass an Schlaf nicht zu denken war, bis sie herausgefunden hatte, wo Tom Cross zur Schule gegangen war. Sie war nicht sicher, wo sie um halb elf an einem Samstagabend diese Information suchen könnte, aber sie kannte eine Frau, die es wissen würde.
Tony kam langsam wieder zu Bewusstsein. Innerhalb von einer
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