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Schleichendes Gift

Schleichendes Gift

Titel: Schleichendes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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hier vor Ort zu sein, waren auch Gaffer und Menschen mit einem Hang zum Makabren da. Manche von ihnen hatten wahrscheinlich zu Robbie Bishops Trauergaben beigetragen. Leute, deren Leben so beschränkt war, dass sie die Bestätigung brauchten, in irgendeiner Form zu einem öffentlichen Ereignis zu gehören. Es war leicht, auf sie herabzusehen, dachte Tony. Aber er fand, dass sie eine Funktion erfüllten, indem sie wie eine Art griechischer Chor auf ihre bedenkenlose Art die Ereignisse des Tages kommentierten. Jeremy Paxman mochte mit den Großen und Guten Interviews führen und sie ihre prägnanten Einsichten äußern lassen, aber auch die Leute auf dem Gehweg hatten etwas zu sagen.
    »Fahren Sie direkt bis nach vorn zur Polizeiabsperrung«, wies Tony den Fahrer an, der das mit Hilfe der Hupe tat und sich einen Weg durch die Grüppchen bahnte. Als er so weit wie möglich gekommen war, richtete sich Tony mühsam auf und schob eine Zwanzigpfundnote durch den Schlitz im Fenster. »Warten Sie bitte auf mich.« Er öffnete die Tür und setzte seine Krücken draußen auf dem Boden auf. Ein unbeholfenes, schmerzhaftes Unterfangen, aber er schaffte es, sich auf die Straße hinauszuarbeiten. Bewaffnete Polizisten standen in regelmäßigen Abständen vor der Einfahrt und der Hecke der Nummer hundertsiebenundvierzig. Auf dem Gehweg gab Sanjar Aziz ein weiteres Interview. Er wurde langsam müde. Seine Schultern hingen herab, und seine Haltung war defensiver als zuvor. Aber die Leidenschaft auf seinem Gesicht war ungebrochen. Die Scheinwerfer gingen aus, der Reporter dankte ihm flüchtig und wandte sich ab. Niedergeschlagenheit breitete sich auf Sanjars Gesicht aus.
    Tony humpelte auf seinen Krücken hinüber. Sanjar betrachtete ihn von oben bis unten, offensichtlich völlig unbeeindruckt. »Wollen Sie ein Interview?«
    Tony schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
    Sanjar verzog verständnislos das Gesicht. »Also gut. Aber Reden und ein Interview geben ist doch das Gleiche, oder?« Er hielt ungeduldig über Tonys Schulter nach jemand anderem Ausschau, der sich anhören würde, was er zu sagen hatte, und kein verbales Duell mit ihm anstrebte.
    Tony knirschte mit den Zähnen. Es war erstaunlich, welche Anstrengung erforderlich war, nur aufrecht stehen zu bleiben, geschweige denn aufrecht zu stehen und dabei auch noch zu sprechen. »Nein, es ist nicht das Gleiche. Die Reporter wollen, dass Sie das sagen, was sie hören wollen. Ich will das hören, was Sie zu sagen haben. Das, worüber sie Sie nicht reden lassen.«
    Jetzt hatte er Sanjars Aufmerksamkeit.
    »Wer sind Sie?«, fragte der junge Mann, und sein ansprechendes Gesicht bekam einen gekränkten und aggressiven Ausdruck.
    »Mein Name ist Tony Hill. Dr. Tony Hill. Ich würde meinen Ausweis zeigen, wenn ich könnte«, erklärte er und sah frustriert auf seine Krücken hinunter. »Ich bin Psychologe und arbeite oft mit der Polizei Bradfield zusammen. Nicht mit denen da«, fügte er hinzu und wies mit einer leicht verächtlichen Kopfbewegung auf die teilnahmslosen Wachen in Kampfanzügen. »Ich glaube, Sie haben Dinge über Ihren Bruder zu sagen, die niemand hören will. Und ich kann mir denken, dass das für Sie unvorstellbar frustrierend ist.«
    »Was hat das mit Ihnen zu tun?«, fragte Sanjar bissig. »Ich brauche keinen Seelenklempner, bei allem Respekt. Ich will nur, dass die hier …«, er zeigte mit einer ausholenden Geste auf Medien und Polizei, »… verstehen, warum sie sich in Bezug auf meinen Bruder so irren.«
    »Sie werden es nicht verstehen«, entgegnete Tony. »Weil es nicht zu dem passt, was sie glauben müssen. Aber ich will es wirklich verstehen. Ich glaube nicht, dass Ihr Bruder ein Terrorist war, Sanjar.«
    Damit hatte er plötzlich einhundert Prozent von Sanjar Aziz’ Interesse. »Sie wollen damit sagen, dass Yousef es nicht getan hat?«
    »Nein, ich glaube, es ist ziemlich eindeutig, dass er es getan hat. Aber ich glaube nicht, dass er es aus den Gründen getan hat, von denen alle ausgehen. Ich vermute, Sie könnten mir helfen zu verstehen, warum dies geschehen ist.« Tony wies mit dem Kopf auf das wartende Taxi. »Wir können irgendwohin fahren und darüber sprechen.«
    Sanjar sah zu seinem Elternhaus hinauf, aus dem gerade ein Techniker im weißen Anzug mit einem weiteren Plastiksack herauskam. Er drehte sich wieder zu Tony um, der das Gefühl hatte, abgeschätzt zu werden. »Okay«, stimmte Sanjar zu. »Ich werde mit Ihnen

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