Schleichendes Gift
abhandengekommen.
Er führte Sanjar ins Wohnzimmer und ließ sich mit plötzlich aufkommender Erleichterung auf seinen Sessel fallen. »Tut mir leid«, meinte er. »Wie Sie sehen, kann ich noch kein besonders guter Gastgeber sein. Dies ist das erste Mal seit einer Woche, dass ich zu Hause bin. Es ist keine Milch da, aber wenn Sie schwarzen Tee oder Kaffee möchten, bedienen Sie sich, bitte. Vielleicht ist sogar Sprudel im Kühlschrank.«
»Was ist mit Ihnen passiert?« Es war das erste Mal, dass Sanjar sprach, seit sie die Vale Avenue verlassen hatten. Im Taxi hatte er nichts gesagt, wofür Tony dankbar gewesen war. Er hatte nicht vorausgesehen, wie viel Energie ihm die körperliche Anstrengung abverlangen würde. Aber während der zwanzigminütigen Taxifahrt hatte er einige seiner Reserven wieder aufgefüllt.
»Ich glaube, der Fachbegriff ist ein durchgedrehter Verrückter mit Beil«, antwortete Tony. »Einer unserer Patienten im Bradfield Moor Hospital hatte einen psychotischen Schub. Er schaffte es, aus dem Zimmer auszubrechen und eine Feuerwehraxt in die Finger zu bekommen.«
Sanjar deutete auf ihn. »Sie sind der Typ, der die Pfleger gerettet hat. Sie waren in den Nachrichten.«
»Ja?«
»Nur in den Lokalnachrichten. Und es gab keine Bilder von Ihnen. Nur von dem Verrückten, der auf alle losgegangen war. Das haben Sie gut gemacht.«
Verlegen machte Tony sich an der Sessellehne zu schaffen. »Aber nicht gut genug. Jemand ist umgekommen.«
»Ja. Ich weiß, wie man sich dabei fühlt.«
»Sie hatten noch gar keine Gelegenheit zu trauern, oder?«
Sanjar starrte auf den Kamin und seufzte. »Meine Eltern haben jeden Boden unter den Füßen verloren«, sagte er. »Sie können es nicht begreifen. Ihr Sohn. Nicht nur, dass er tot ist, sondern dass er all diese Leute mit sich gerissen hat. Wie kann das sein? Ich meine, ich bin sein Bruder. Die gleichen Gene. Die gleiche Erziehung. Und ich kann’s ja auch nicht fassen. Wie sollen sie es dann können? Ihr Leben ist zerstört, und sie haben einen Sohn verloren.« Er schluckte heftig.
»Es tut mir leid.«
Sanjar sah ihn misstrauisch an. »Was tut Ihnen leid? Mein Bruder war ein Mörder, oder nicht? Wir verdienen all den Mist, der auf uns zukommt. Wir verdienen es, die Nacht in einer Zelle zu verbringen. Wir verdienen es, dass unsere Wohnung auseinandergenommen wird.«
Sein Schmerz und Zorn waren offensichtlich. Tony hatte seine Karriere auf seiner Fähigkeit zur Empathie und seiner Vorstellungskraft aufgebaut. Er hätte nahezu alles getan, um die schreckliche Lage zu vermeiden, in der Sanjar sich befand.
»Nein, das tun Sie nicht. Es tut mir leid, dass es so schmerzhaft für Sie ist. Und es tut mir leid, dass Ihre Eltern dies durchmachen«, erklärte er.
Sanjar wandte den Blick ab. »Danke. Also, ich bin hier. Was wollen Sie über meinen Bruder wissen?«
»Was wollen Sie mir sagen?«
»Wie er wirklich war. Niemand will hören, wie mein Bruder Yousef wirklich war. Und zunächst müssen Sie wissen, dass ich ihn sehr gern hatte. Und ich könnte ehrlich keinen Terroristen gern haben. Ich hasse diese Leute, und Yousef tat das auch. Er war kein Fundamentalist. Er war nicht einmal ein richtiger Moslem. Mein Vater, der ist wirklich strenggläubig. Und ist so wütend auf mich und Yousef, weil wir das nicht sind. Wir beide finden immer eine Entschuldigung, nicht in die Moschee zu gehen. Als Kinder hörten wir auf, die Koranschule zu besuchen, sobald wir alt genug waren. Aber es ist doch so …« Im Fortfahren warf er selbst die Frage auf, die Tony hatte stellen wollen: »Selbst wenn wir strenggläubig wären und jeden Tag in die Moschee gingen, hätten wir hier keine radikalen Parolen gehört. Der Imam der Moschee in Kenton ist überhaupt nicht für so was. Er ist einer, der predigt, dass wir alle Söhne Abrahams sind und lernen müssen, miteinander zu leben. Es gibt keine geheimen Treffen von Verschwörern hinter verschlossenen Türen, bei denen geplant wird, wie man Leute in die Luft sprengt.« Jetzt verließ ihn sein Schwung so plötzlich, wie er gekommen war.
»Ich glaube Ihnen«, sagte Tony und sah fast mit Vergnügen den Ausdruck verwirrter Überraschung auf Sanjars Gesicht.
»Wirklich?«
»Wie ich schon sagte, ich bin nicht überzeugt, dass Ihr Bruder ein Terrorist war. Was eine Frage aufwirft, die mich sehr interessiert: Warum sollte Yousef eine Bombe ins Victoria-Park-Stadion schmuggeln und ein Loch in die Vestey-Tribüne sprengen?« Tony erwähnte mit
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