Schleichendes Gift
ballten.
»Ihr Moslems. Ich hab’s irgendwo gelesen. Es ist gegen eure Religion. Zinsen zahlen und so.« Der Mann schob sein Kinn trotzig vor. »Ich bin kein Rassist, wissen Sie. Ich stelle einfach nur eine Tatsache fest.«
Yousef atmete schwer. Was das betraf, war die Einstellung des Mannes ja noch ziemlich mild. Er hatte viel, viel Schlimmeres erlebt. Aber er war dieser Tage hochsensibel gegenüber allem, was auch nur einer Spur von Vorurteil gleichkam. All dies trug dazu bei, dass er auf diesem Weg blieb und seine Pläne bis zum Ende durchzog. »Wenn Sie meinen«, entgegnete er, da er keinen Streit wollte, durch den man sich an ihn erinnern könnte, aber andererseits wollte er auch nicht einfach dazu schweigen.
Das Eintreffen seiner Ware ersparte ihm jede weitere Unterhaltung. Er nahm alles und ging hinaus, ohne das »Wiedersehn« des Lageristen zu erwidern.
Der Verkehr auf der Autobahn war lebhaft, und er brauchte fast eine Stunde bis nach Bradfield. Eigentlich hatte er nicht mehr genug Zeit, seine Ausrüstung in die Einzimmerwohnung zu bringen, aber im Lieferwagen konnte er sie nicht herumliegen lassen. Wenn Raj, Sanjar oder sein Vater sie sähe, würde das alle möglichen Fragen aufwerfen, die er auf keinen Fall beantworten wollte.
Die Wohnung lag im ersten Stock eines ehemaligen Stadthauses, das einem Eisenbahnmagnaten gehört hatte. Ein weitläufiger Komplex im neugotischen Stil, dessen fleckiger Stuck an Giebeln und Erkern rissig war und abbröckelte, dessen Fensterrahmen halb verrottet waren und in dessen Regenrinnen eine Menge Unkraut wuchs. Man hatte früher einmal von hier aus eine schöne Aussicht gehabt. Aber jetzt sah man aus den vorderen Fenstern nur die freitragende, nach unten abfallende Westtribüne von Bradfield Victorias großem Stadion in einer halben Meile Entfernung. Ein Viertel, in dem früher einmal eine gewisse Vornehmheit geherrscht hatte, war nun zu einem Ghetto heruntergekommen, dessen Einwohner nur durch ihre Armut vereint waren. Die Schattierungen der Hautfarbe reichten vom Blauschwarz südlich der Sahara bis zum blassen Milchweiß Osteuropas. Einer Umfrage des Stadtrats von Bradfield zufolge wurden in der Quadratmeile westlich des Fußballfeldes dreizehn Religionen ausgeübt und zweiundzwanzig Sprachen gesprochen.
Hier bewegte sich Yousef unbemerkt von seiner eigenen Immigrantengemeinschaft der dritten Generation. Hier fiel er niemandem auf, und es interessierte keinen, wer in seinem Versteck im ersten Stock ein und aus ging. Hier war Yousef unsichtbar.
Die Empfangsdame versuchte, ihren Schock zu verbergen, was ihr aber nicht gelang. »Guten Morgen, Mrs. Hill«, plapperte sie automatisch. Sie warf einen Blick auf den Kalender auf ihrem Schreibtisch, als könne sie nicht glauben, dass sie sich so geirrt hatte. »Ich dachte …, Sie wären nicht …«
»Gut, das hält Sie in Bewegung, Bethany«, versetzte Vanessa, als sie an ihr vorbei in ihr Büro rauschte. Die Gesichter, an denen sie auf ihrem Weg vorbeikam, blickten bestürzt und schuldbewusst, während sie ihren Gruß stammelten. Sie glaubte keineswegs, dass sie etwas getan hatten, was ihnen Schuldgefühle verursachen müsste. Ihr Personal wusste ganz genau, dass es nicht versuchen sollte, sie zu hintergehen. Aber sie mochte es, wenn bei ihrer Ankunft eine Welle der Angst durch das Büro schwappte. Es war ein Zeichen, dass sie den Gegenwert für ihr Geld bekam. Vanessa Hill war keine gefühlsduselige Chefin. Sie hatte bereits einen Freundeskreis und brauchte ihre Angestellten nicht zu ihren Vertrauten zu machen. Sie war streng, glaubte aber fair zu sein. Dies war etwas, was sie ihren Kunden einzuhämmern versuchte. Distanz halten, ihren Respekt gewinnen, und so würde es kaum Probleme mit dem Personal geben.
Schade, dass es mit Kindern nicht so einfach war, dachte sie, als sie ihren Laptop auf den Schreibtisch stellte und ihre Jacke aufhängte. Wenn jemand vom Personal nicht spurte, konnte sie ihn feuern und einen anderen einstellen, der für die Arbeit geeignet war. Kinder wurde man nie wieder los. Und von Anfang an hatte Tony ihre Erwartungen nicht erfüllt. Als sie von einem Mann schwanger wurde, der bei dieser Nachricht verschwunden war wie Schnee bei Tauwetter, hatte ihre Mutter ihr geraten, das Baby zur Adoption freizugeben. Vanessa hatte rundweg abgelehnt. Jetzt sah sie mit Bestürzung darauf zurück und fragte sich, warum sie so unnachgiebig gewesen war.
Sie hatte es nicht aus sentimentalen Gründen getan,
Weitere Kostenlose Bücher