Schleichendes Gift
denn sie hatte keinen einzigen rührseligen Knochen im Leib. Auch das war eine Empfehlung an ihre Kunden. Hatte sie sich wirklich in diese prekäre Lage begeben, nur um ihre fordernde, dominante Mutter zu ärgern? Es musste mehr dahinterstecken als das, aber um alles in der Welt konnte sie sich nicht erinnern, was es war. Es mussten die Hormone gewesen sein, die ihren Verstand verwirrt hatten. Aber was auch immer, sie hatte den Klatsch und die Bosheit der Nachbarn ertragen, die ein uneheliches Kind damals bedeutete. Sie hatte sich eine andere Stelle gesucht, war ans andere Ende der Stadt gezogen, wo niemand sie kannte, hatte ihre Vergangenheit geschönt und einen toten Ehemann erfunden, um dem Stigma zu entgehen. Und sie hatte sich sowieso nie der Illusion hingegeben, sich im sanften Glanz der Mutterrolle sonnen zu können. Da ihr Vater tot war und sie jetzt keine Aussicht mehr auf einen Mann hatte, musste sie für ihren Unterhalt sorgen. Sie hatte schon immer gewusst, dass sie so bald wie nur irgend möglich wieder zur Arbeit gehen würde wie eine verflixte chinesische Bäuerin, die ein Kind im Graben absetzt und dann zurück ins Reisfeld geht. Und wofür?
Ihre Mutter hatte sich wohl oder übel um den Jungen gekümmert. Sie hatte kaum eine andere Wahl gehabt, da das Einkommen ihrer Tochter sie alle erhielt. Vanessa erinnerte sich ausreichend genug an ihre eigene Kindheit, um zu wissen, zu was für einem Leben sie ihren Sohn verdammte. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie Tonys Tage wohl gewesen waren, und sie ermutigte ihn nicht, darüber zu sprechen. Bei der Leitung einer gutgehenden Personalagentur und später bei der Gründung ihres eigenen Unternehmens hatte sie genug zu kämpfen. Sie liebte die Herausforderungen ihrer Arbeit, hatte aber für ein weinerliches Kind keine Energie übrig.
Man musste ihm lassen, dass er das ziemlich früh kapiert hatte. Er lernte, sich damit abzufinden, die Klappe zu halten und zu tun, was man ihm sagte. Wenn er sich vergaß und um sie herumhüpfte wie ein Welpe, genügten ein paar scharfe Worte, um ihn in seine Schranken zu weisen.
Trotzdem hatte er sie am Fortkommen behindert. Daran bestand kein Zweifel. Damals vor so vielen Jahren wollte niemand mit dem Kind eines anderen Mannes eine Familie gründen. Und auch im Beruf war er ein Hindernis. Als sie sich selbständig machte, musste sie die Reisen auf ein Minimum beschränken, denn ihre Mutter machte Ärger, wenn sie den Jungen zu oft über Nacht bei ihr ließ. Vanessa hatte Chancen verpasst, hatte ihre Kontakte nicht schnell genug nutzen können und war wegen Tony verdammt oft damit beschäftigt gewesen, andere einzuholen.
Und es hatte sich nicht ausgezahlt. Die Kinder anderer Frauen heirateten und sorgten für Enkel. Fotos auf dem Schreibtisch, Geschichten, die man sich in den Pausen der Meetings erzählen konnte, Familienferien in der Sonne. All das waren Eisbrecher, die Vertrauen schufen, als Kitt für Geschäftsbeziehungen wirkten und bei Abschlüssen und daher beim Geldverdienen halfen. Tonys fortwährendes Versagen bedeutete, dass Vanessa umso härter arbeiten musste.
Jetzt war es an der Zeit, etwas zurückzugeben, das stand fest. Die Dinge hätten sich nicht besser fügen können, wenn sie sie geplant hätte. Er saß im Krankenhaus fest, benommen von Medikamenten und Müdigkeit. Er konnte sich nicht verstecken. Sie hatte jederzeit Zutritt zu ihm und konnte immer den rechten Moment wählen. Sie musste nur sicherstellen, dass sie die Freundin möglichst mied.
Ihre Sekretärin schlüpfte herein und servierte ihr wortlos den Kaffee, der ihr immer innerhalb von Minuten nach ihrer Ankunft an den Schreibtisch gebracht wurde. Vanessa fuhr ihren Computer hoch und erlaubte sich ein kurzes grimmiges Lächeln. Sich vorzustellen, dass sich Tony eine Frau von gutem Aussehen und mit einem klugen Köpfchen angeln könnte! Vanessa hatte ihrem Sohn einen Fang wie Carol Jordan nicht zugetraut. Wenn sie sich für ihn überhaupt irgendeine Frau vorgestellt hätte, wäre es eine unscheinbare graue Maus von einem Mädchen gewesen, das den Boden anbetete, auf dem er ging. Na ja, Freundin oder nicht, sie würde jedenfalls ihren Willen durchsetzen.
Elinor hob die Hand, um anzuklopfen, hielt dann aber inne. War sie etwa gerade dabei, ihre Karriere zu ruinieren? Man konnte argumentieren, dass es keine Rolle spielte, ob sie etwas sagte oder nicht. Denn wenn sie recht hatte, würde Robbie Bishop auf jeden Fall sterben. Nichts konnte
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