Schleichendes Gift
zurück und ging an seinen eigenen Schreibtisch. Carol schob Tonys Stuhl weiter von Stacey weg und zog einen zweiten für sich heran.
»Bist du verrückt?«, schimpfte sie. »Sie behalten dich doch nicht ohne Grund im Krankenhaus.«
»Du klingst genau wie die Schwestern.«
»Na ja, vielleicht haben sie recht, hast du darüber mal nachgedacht?«
Er rieb sich das Kinn. »Ich muss arbeiten, Carol. Sonst kann ich nichts. Ich bin nicht geschaffen, die Ruhe zu genießen und an Blumen zu riechen.« Er sah einen Funken Verständnis in ihren Augen. Sie hatte einmal drei Monate lang versucht, ohne ihre Arbeit auszukommen. Es hatte sie nicht geheilt, sondern fast umgebracht. Niemand wusste das besser als er. Er zeigte auf seine Tasche mit dem Laptop auf Staceys Tisch. »Ich hab etwas mitgebracht und hätte gern, dass du’s dir anschaust. Ich glaube, ich habe etwas entdeckt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mir nicht etwas vormache, weil ich es sehen will.«
Carol holte den Laptop und wartete dann, während Tony die Datei öffnete, in der er Yousef Aziz’ Blog-Texte gespeichert hatte. »Wo hast du das her?«, fragte Carol.
»Sanjar Aziz hat es mir gezeigt«, antwortete er, zerstreut auf den Bildschirm schauend.
»Wann hast du mit Sanjar Aziz gesprochen?«
»Heute Vormittag. Hier, sieh dir das mal an.«
Carol legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du weißt, dass das CTC ihn zum Verhör geholt hat?«
Er starrte mit gesenktem Kopf auf die Tastatur hinunter. »Das hatte ich befürchtet.« Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Er ist genauso wenig ein Terrorist, wie sein Bruder einer war.«
»Na ja, viele Leute hier würden diese Einschätzung nicht teilen«, entgegnete Carol. »Sein Bruder hat ein Fußballstadion in die Luft gesprengt, Tony. Es ist nicht unvernünftig von ihnen, ihn festzunehmen.«
»Warum haben sie es nicht gestern getan?«
»Sie wollten die muslimische Gemeinde nicht in Aufruhr versetzen. Sein Bruder kam um, seine Eltern und sein jüngerer Bruder trauerten, er würde nirgends hingehen.«
»Aber warum jetzt? Sie müssen eine Beerdigung vorbereiten. Wann wird die sein? Morgen? Werden sie Sanjar früh genug gehen lassen, damit er seinen Bruder beerdigen kann?« Seine Stimme wurde lauter, und Carol legte ihm wieder die Hand auf den Arm.
»Hat Aziz dir etwas Brauchbares erzählt?«
Tony berichtete ihr, was sie besprochen hatten und was er in Aziz’ Blog-Zuschriften gesehen zu haben meinte. »Ich glaube, ich kann einen Gesinnungswandel bei ihm erkennen. Zuerst redet er davon, dass wir alle lernen sollten, in Respekt zusammen zu leben. Sein Ton ist eher verzweifelt als zornig. Er sagt: ›Ich kann dies verstehen, warum können unsere Anführer, warum können alle anderen das nicht begreifen?‹ Aber nach und nach tritt ein Wandel ein. Am Ende klingt er viel zorniger. Als nehme er es persönlich, dass es diese kulturellen und religiösen Konflikte gibt, die das Leben der Leute belasten. Sieh mal, ich zeige dir, was ich meine.« Er fing an, zwischen den Beiträgen hin und her zu klicken, und zeigte ihr Beispiele. Nachdem sie ein Dutzend oder mehr durchgegangen waren, schaute er Carol erwartungsvoll an. Sein Selbstvertrauen, wurde ihm da bewusst, war fast so angeschlagen wie sein Bein. »Was denkst du?«
»Ich weiß nicht. Ich sehe, was du meinst, aber ich bin mir nicht sicher, ob es aussagekräftig ist. Ich bin mir nicht einmal sicher, in welche Richtung wir uns damit bewegen. Wenn Yousef Aziz nämlich kein Terrorist wäre, gäbe es keine terroristische Zelle, und wir verschwendeten alle unsere Zeit.«
»Das CTC tut das, aber du auf keinen Fall«, sagte Tony. »Es könnte etwas anderes sein. Vielleicht wurde er beauftragt, die Bombe auszuliefern, aber etwas ging dabei schief. Vielleicht wurde er erpresst, seine Familie bedroht. Es war vielleicht kein terroristischer Anschlag, aber das heißt nicht, dass nicht andere Leute da draußen in die Sache verwickelt sind. Wir sollten uns die Opfer anschauen, Carol. So fangen wir doch immer an. Wer ist gestorben? Wer waren diese Leute? Wem nützte ihr Tod? Ich brauche Informationen über die Opfer, Carol. Das ist es, was ich jetzt brauche.« Er war so aufgeregt, dass er die neu angekommenen Personen gar nicht bemerkte.
»Und wer ist das, Carol?«, fragte der Mann in der schwarzen Lederjacke mit dem kahlrasierten Schädel.
Tony runzelte die Stirn und legte den Kopf in den Nacken, um den Neuankömmling in seiner vollen Größe und Breite
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