Schleichendes Gift
als Junge eine Liste von dem gemacht, was er in der Zukunft erreichen wollte. Ganz oben stand ›Premierminister werden‹. Na ja, das hat er nicht geschafft, ist aber verdammt nah dran gewesen, und alle anderen Sachen auf der Liste hat er geschafft. Der Lehrer erzählt also davon und dass man sich Ziele setzen sollte. Und wir denken alle: ›Eine Arbeit finden, eine Freundin haben, eine Jahreskarte fürs Victoria-Park-Stadion besitzen.‹ Aber nicht Jack. Er schreibt Zeug auf wie: ›Einen Ferrari haben. Ein Haus am Dunelm Drive besitzen. Millionär werden, bevor ich dreißig bin.‹ Wir lachten ihn alle aus, aber er meinte es ernst.«
»Hört sich ziemlich ehrgeizig an«, sagte Paula.
»So war Jack.« Mottishead wurde jetzt ernst. »Wenn Sie meinen, er hätte Robbie Bishop umgebracht, werde ich nicht derjenige sein, der im Fernsehen sagt: ›Ich kann’s nicht glauben.‹ Bei dem Weg, den Jack schon vor so vielen Jahren eingeschlagen hat, da wäre Mord einfach ein weiteres Tabu, das er gebrochen hätte. Und er würde verdammt gute Arbeit leisten. Sie hätten alle Hände voll zu tun, ihn zu erwischen, ganz zu schweigen davon, ihn zu überführen.«
Paula überlief ein Schauder. »Diese Gruppe, mit der er beim Pubquiz mitmachte – ›The Funhouse‹, waren das Kollegen?«
»Nein, sie taten sich zusammen, weil sie alle diese Online-Spiele spielten. Zauberer und Zwerge, die ihre Kräfte messen, wissen Sie? Jedenfalls, sie fanden heraus, dass sie alle in der Nähe wohnten, und beschlossen, sich für das Pubquiz zusammenzutun. Nette Kerle, aber außer Jack richtige Besserwisser. Er passte eigentlich nicht so recht zu ihnen. Allerdings hätte er nie irgendwo reingepasst. Bei all dem Unfug, den er trieb, hatte er doch nie wirkliche Freunde. Nur Leute, die den Blödsinn mitmachten.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wo er jetzt ist?«
»Keinen Schimmer. Tut mir leid. Ich hab rumgefragt, nachdem ich neulich mit Ihnen geredet hatte. Aber seit Jahren hat niemand eine Spur von ihm gesehen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Paula. »Wir glauben, dass er eine Wohnung in Temple Fields hat. Wir meinen, dass er an dem Abend, als Robbie vergiftet wurde, im Amatis war. Er muss doch ausgehen. Ich kann nicht glauben, dass ihn niemand irgendwo gesehen hat.«
Mottishead nahm einen Schluck aus seiner Dose. »Vielleicht ist das so, weil er dort nicht wohnt. Viele von den extravaganten Wohnungen im Zentrum sind nur Zweitsitze für reiche Säcke, die woanders wohnen. Vielleicht hat’s Jack ja doch geschafft. Vielleicht kommt er nur in die Stadt, wenn er jemanden umbringen will.«
Mit schmerzenden Händen und Schultern setzte Tony seinen Weg durch den Korridor im dritten Stock fort. Er konnte sich nicht erinnern, dass es vom Aufzug zum Einsatzzentrum so weit gewesen wäre. Aber auch die Korridore im Krankenhaus schienen seit jenem Morgen länger geworden zu sein.
Er hatte die Schwester angelogen, hatte behauptet, er ginge hinunter ins Café im Erdgeschoss, um zu lesen und eine gute Tasse Kaffee zu trinken, und man solle ihn für eine Weile nicht zurück erwarten. Die Wahrheit war, dass er am besten arbeiten konnte, wenn er dem Team gegenübersaß und direkt mit ihnen reden und ihnen zuhören konnte. Er wollte Carol Yousef Aziz’ Blog-Botschaften zeigen, weil er befürchtete, sie kaum überzeugen zu können, ohne dass er ihr erklärte, was er meinte.
Und genauso wichtig war ihm, einem weiteren vernichtenden Zusammentreffen mit seiner Mutter aus dem Weg zu gehen.
Als er eintrat, war er enttäuscht, nur Stacey vorzufinden. Er hatte nichts gegen sie; es war unmöglich, keinen Respekt vor ihren Fähigkeiten zu haben. Und er wusste aus Erfahrung, wie wichtig ihr Geschick für den Erfolg des Teams gewesen war. In Bradfield liefen Leute herum, die es gar nicht mehr geben würde ohne Staceys tiefes Verständnis für Computer und den virtuellen Raum. Leider hatte sie die Kommunikation mit tatsächlichen Menschen nie richtig beherrschen gelernt. Er war in ihrer Gegenwart immer verlegen, vielleicht weil er verstehen konnte, wie sehr seine eigenen kommunikativen Fähigkeiten eingeschränkt wären, wenn er nicht so hart daran gearbeitet hätte, als normaler Mensch durchzugehen.
Tony humpelte durch den Raum und lächelte, als Stacey aufsah. Ihre Augen weiteten sich, und sie sprang auf und stellte einen zweiten Stuhl an ihren Schreibtisch. Er setzte sich dankbar hin und nahm seinen Laptop ab, den er sich umgehängt hatte. »Wir wussten nicht,
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