Schleichendes Gift
Haltung ihrer Arme. »Es füllt einen Teil der Zeit aus«, meinte sie. »Davon spricht niemand, oder? Alle reden vom Kummer, den Tränen und der Verzweiflung, aber sie sprechen nicht über die leeren Stunden und wie sich die Zeit in die Länge zieht.« Sie stieß ein kurzes bitteres Lachen aus. »Ich habe sogar schon daran gedacht, ins Büro zu fahren, nur damit ich etwas zu tun habe. Aber Lew geht zur Zeit nicht in die Schule, und seinetwegen muss ich hierbleiben.« Sie seufzte. »Lew ist mein kleiner Junge. Er ist erst sechs. Er versteht das Wort tot nicht. Er begreift nicht, dass es für immer gilt. Er meint, Daddy ist wie Aslan, der Löwe aus den Chroniken von Narnia , und wird wieder lebendig werden, und alles ist wie vorher.«
Ihr Kummer war fast greifbar. Er schien in Wellen von ihr auszugehen, den Raum zu füllen und sich um sie herum auszubreiten. »Ich muss Ihnen zu einigen Dingen Fragen stellen«, erklärte Tony.
Rachel presste die Hände aneinander wie zum Gebet, die Ellbogen auf der Sessellehne, die Wange an einen Handrücken gelegt. »Fragen Sie, was Sie möchten. Aber ich verstehe nicht, wie ich Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen kann, worin sie auch bestehen mag.«
Es gab keine Möglichkeit, sich dieser Frage auf taktvolle Weise zu nähern. »Mrs. Diamond, kannten Sie Yousef Aziz?«
Sie blickte so aufgeschreckt drein, als sei dies ein Name, den sie niemals in diesem Haus zu hören erwartet hätte. »Der Bombenleger?« Sie würgte, als würde ihr übel.
»Ja«, bestätigte Tony.
»Wieso sollte ich einen fundamentalistischen islamischen Selbstmordattentäter kennen?« Jedes Wort kam nur mit großer Mühe heraus. »Wir sind Juden. Wir gehen in die Synagoge, nicht in die Moschee.« Sie setzte sich zitternd auf und fuchtelte wie in einem Krampf unkontrolliert mit den Händen.
»Die Textilfirma seiner Familie handelte mit B&R«, warf Paula ein, und ihre Stimme war genauso sanft wie die von Tony. »Sie sind Geschäftsführerin von B&R, Mrs. Diamond.«
Sie wirkte gejagt wie ein aufgeschrecktes Tier. »Ich arbeite im Büro. Benjamin, er hat alle … Er hat immer die … Ich hatte seinen Namen noch nie gehört, bevor er meinen Mann in die Luft gesprengt hat.«
»Gibt es sonst jemanden in der Firma, dem gegenüber er Aziz erwähnt haben könnte?«, erkundigte sich Paula.
»Nur wir beide. Unser Teil ist kein arbeitsintensives Geschäft. Wir haben es zusammen erledigt. Keine Sekretärinnen, kein Verkaufsteam.« Sie lächelte mit einem traurigen, wehmütigen Ausdruck.
»Sind Sie sicher? Es stand in allen Zeitungen, Rachel«, sagte Tony. »Sein Name. Die Firma der Familie, First Fabrics. Sie haben ihn nicht erkannt?«
Rachel wiegte sich auf ihrem Sessel, ihr Blick zuckte zwischen ihnen hin und her. »Ich kenne den Namen. Ich habe ihn unter den Kundenkonten von B&R gesehen. Aber ich habe keine Zeitungen gelesen. Warum sollte ich etwas über diese Sache lesen wollen? Warum sollte ich lesen wollen, wie mein Mann umgekommen ist? Meinen Sie, ich habe mich in die Zeitungen vertieft?«
»Natürlich nicht«, versicherte Tony und versuchte ihre Aufregung zu dämpfen. »Ich dachte nur, Sie hätten es vielleicht bemerkt. Aber Tatsache ist nun einmal, B&R hat mit First Fabrics direkt Geschäfte gemacht. Den Zwischenhändler ausgespart. Deshalb vermute ich, dass Benjamin Yousef Aziz gekannt haben muss. Sie müssen miteinander telefoniert haben. Sie müssen sich getroffen haben. Verstehen Sie, es ist sehr ungewöhnlich, dass es zwischen einem Bombenleger und seinen Opfern eine Beziehung gibt.«
»Eine Beziehung?« Rachel klang, als hätte sie das Wort noch nie gehört. »Was soll das heißen ›eine Beziehung‹? Was deuten Sie da über meinen Mann an?«
»Nichts, was über die Tatsache hinausgeht, dass sie einander kannten«, erklärte Tony hastig. Die Sache lief nicht gut. »Sehen Sie, im Allgemeinen ist eines der Dinge, die es einem Bombenleger möglich machen, seine Mission auszuführen, dass er die Persönlichkeit seiner Opfer ausblenden kann. Sie sind keine wirklichen Menschen, sie sind der Feind, sie sind korrupt, was immer. Wenn er eine persönliche Verbindung zu den möglichen Opfern hat, ist es umso schwerer, das zu Ende zu bringen, wofür er sich entschieden hat. Deshalb bin ich neugierig zu erfahren, wie gut Benjamin seinen Mörder kannte.« Er breitete um Verständnis bittend die Hände aus. »Das ist alles, Rachel.«
»Woher wissen Sie, dass dieses Stück … dieser Bombenleger auch nur ahnte, dass
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