Schleichendes Gift
es tun«, hatte seine Patientin mit größter Sachlichkeit erklärt. »Solange er mit Maria verheiratet wäre, hätte er sich nie voll für die Firma eingesetzt. Und ich brauchte dieses Engagement von ihm. Also musste sie gehen.« Für welche einleuchtende Reaktion würde sich wohl Jack Anderson Rechtfertigungen ausdenken, wenn er seiner Träume beraubt war?
Es schien, als hätte er sich für Mord entschieden. Seine Opfer waren Männer, die aus ähnlichen Verhältnissen stammten wie er. Sie hatten die gleiche Schule besucht und theoretisch die gleichen Möglichkeiten wie er gehabt. Und sie hatten gezeigt, dass seine Träume gar nicht so verrückt waren, denn jeder von ihnen hatte eines seiner Ziele in die Wirklichkeit umgesetzt. Aber Anderson hatte aus irgendeinem Grund feststellen müssen, dass er die ehrgeizigen Ziele, die er sich gesetzt hatte, nicht erreichen konnte. Manche Menschen hätten sich damit abgefunden und sich eingestanden, dass ihre jugendlichen Träume nur Luftschlösser waren. Andere hätte die Verbitterung ergriffen, sie hätten angefangen zu trinken und ihre Frustration auf eine hauptsächlich selbstzerstörerische Art und Weise ausgelebt. Jack Anderson aber hatte beschlossen, diejenigen, die ihre Ziele erreicht hatten, zu töten. So konnten sie ihm nicht länger sein Versagen vorwerfen.
Deshalb spielte kein sexuelles Element bei den Morden eine Rolle, deshalb wurden sie aus der Distanz ausgeführt. Es ging dabei zwar um Wünsche, aber nicht um sexuelle Wünsche.
Und warum Gift? Gut, es war perfekt, wenn es einem nicht auf die lustvolle Beobachtung des sterbenden Opfers ankam und man sich keinem Verdacht aussetzen wollte, weil man weit genug weg war, wenn es geschah. Denn das hieß, man konnte nicht den Weg der meisten Mörder einschlagen, die sich für eigentlich anspruchslose Methoden entschieden: Handfeuerwaffen, Messer, stumpfe Gegenstände. Aber dennoch – warum wählte er etwas so Obskures, das einem vorkam, als stamme es aus einem Krimi von Agatha Christie?
Tony musste dieser Frage auf den Grund gehen. Es musste eine Ursache dafür geben. Mörder nahmen zum Töten im Allgemeinen etwas, das greifbar war oder womit sie Erfahrung hatten. Was wäre, wenn die Gifte gewählt wurden, nicht obwohl sie weit hergeholt, sondern gerade weil sie greifbar waren? Carol hatte schon Rhys Butler, einen Mann mit Zugriff auf pharmakologische Substanzen, befragt. Das hatte noch irgendwie einen Sinn gehabt.
Aber Anderson benutzte keine per Rezept verschriebenen Substanzen. Sie wurden aus Pflanzen gewonnen. Rizin aus der Rizinuspflanze, Atropin aus der Tollkirsche, Oleandrin aus Oleander. Keine alltäglichen Gartenpflanzen, aber auch nichts besonders Exotisches.
Wer würde einen Garten mit solchen Pflanzen besitzen? Er müsste eine Art Spezialist sein. Tony hatte irgendetwas im Hinterkopf über Gärten und Gift. Er setzte sich auf und fuhr den Laptop hoch. Als er online war, googelte er »Giftpflanzen Garten«. Der erste Treffer war der Giftpflanzengarten auf Alnwick Castle in Northumberland, ein Füllhorn todbringender Gewächse, der unter strenger Aufsicht für die Öffentlichkeit zugänglich war.
Aber wie Tony entdeckte, als er weiter nachforschte, war dies keineswegs ein neuer Einfall. Die Idee ging direkt auf die Medici-Familie zurück, die in der Nähe von Padua einen solchen Garten angelegt hatte, der ihnen bessere Möglichkeiten bot, ihre Feinde zu vergiften. Und auf die Mönche des Soutra Hospital bei Edinburgh, die einschläfernde Schwämme mit der richtigen Dosis Opium, Bilsenkraut und Schierling benutzt hatten, um Menschen für eine Zeitspanne von zwei bis drei Tagen zu anästhesieren. Genauso lang dauerte es, bis der Körper aus dem Schockstadium in den natürlichen Heilungsprozess überging, nachdem man ein Glied amputiert hatte. Es hatte im Laufe der Zeit andere private Gärten mit Giftpflanzen gegeben, und Tony fand diverse spekulative Erwähnungen in Newsgroups und Blogs.
Und wenn Jack Anderson Zugriff auf einen gehabt hätte? Wenn Gift für ihn die Waffe der günstigsten Gelegenheit war? Tony sah zum Telefon. Jetzt wäre ein guter Moment zu klingeln.
Stattdessen kam sofort nach einem flüchtigen Anklopfen Dr. Chakrabarti herein. »Ich höre, Sie sind wieder umhergewandert«, sagte sie ohne weitere Einleitung.
»Ich bin zurückgekommen«, entgegnete Tony. »Sie haben mir doch alle gesagt, ich solle aufstehen und mich bewegen.«
»Ich glaube, es ist Zeit, dass Sie nach Hause gehen«,
Weitere Kostenlose Bücher