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Schleichendes Gift

Schleichendes Gift

Titel: Schleichendes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Nachbareinfahrt von ihrer trennte. Erst als sie sicher war, dass er wirklich weg war, goss sie sich einen extra großen Schuss Brandy ein und ging nach oben.
    Die Post zu holen war nur vernünftig und gab ihr einen Vorwand, die Treppe zu Tonys Arbeitszimmer im ersten Stock hochzugehen. Sie legte die Briefe auf den Schreibtisch und ließ sich auf den Sessel fallen, der seinem gegenüberstand. Sie mochte diesen Sessel sehr, weil er so tief und breit war und sie mit seinen Polstern zu umfassen schien. Aufgrund seiner Größe fühlte er sich wie eine Höhle an, so wie Kindern ein großer Sessel für Erwachsene vorkommt. Auf diesem Möbelstück hatte sie ihre Fälle diskutiert, über ihre Gefühle gegenüber den Mitgliedern ihres Teams gesprochen und herausgestellt, wie wichtig trotz aller Gefahren und Enttäuschungen die Gerechtigkeit für sie war. Er hatte über seine Theorien zum Täterverhalten geredet, über Ärger mit dem Gesundheitswesen und seinen brennenden Wunsch, die Menschen zu verändern. Sie konnte nicht abschätzen, wie viele Stunden sie in entspannter Vertrautheit in diesem Zimmer verbracht hatten.
    Carol kuschelte sich mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sessel zusammen und goss, ohne mit der Wimper zu zucken, die Hälfte des Brandys hinunter. Noch fünf Minuten, dann würde sie wieder hinuntergehen. »Ich wollte, du wärst hier«, sagte sie leise. »Ich habe das Gefühl, wir kommen überhaupt nicht weiter. Normalerweise würde ja niemand in dieser Phase eines solchen Falls große Fortschritte erwarten. Aber es geht um Robbie Bishop, und die Öffentlichkeit sieht zu. Nicht voranzukommen ist also ausgeschlossen.« Sie gähnte und trank aus.
    »Du hast mir Angst eingejagt, weißt du das«, erzählte sie und vergrub sich tiefer in die weichen Polster. »Als Chris mir sagte, du seist dem verrückten Kerl mit der Axt begegnet, da dachte ich, mein Herz bliebe stehen, und die Welt bewegte sich nur noch in Zeitlupe. Mach das ja nicht noch mal, du Mistkerl.« Sie drehte den Kopf, legte ein Kissen bequemer hin, schloss die Augen und spürte, wie sie sich unter der Wirkung des Alkohols entspannte. »Aber ich wünschte, du hättest mich vor deiner Mutter gewarnt. Das ist ja eine Nummer. Kein Wunder, dass du so merkwürdig bist, wie du bist.«
    Als Nächstes nahm Carol das Piepsen des Radioweckers über den Flur hinweg wahr. Steif und verwirrt rappelte sie sich hoch und sah auf ihre Uhr. Sieben. Weniger als drei Stunden hatte sie geschlafen. Zeit, sich erneut aufzumachen.
    Und jetzt stand sie da, geduscht, in frischen Kleidern und mit einem Koffeinlevel, der schon so hoch war, dass er ein Nervenbündel aus ihr machte. Carol fuhr sich mit den Fingern durch das blonde Haar und fing an, den Stapel Presseartikel über Robbie Bishop durchzugehen, die Paula für sie zusammengestellt hatte. Sie konzentrierte sich darauf, denn das Letzte, was sie tun wollte, war, sich damit zu befassen, wie sie die letzte Nacht verbracht hatte. Sie sah nur auf, als Chris Devine anklopfte und mit einer braunen Tüte in der Hand hereinkam. »Brötchen mit Schinken und Ei«, erklärte sie knapp und legte sie auf den Schreibtisch. »Wir sind jederzeit so weit.«
    Carol lächelte hinter ihr her, als sie verschwand. Chris hatte eine Art, ihren Kollegen mit kleinen Gesten zu zeigen, dass sie zusammengehörten. Carol fragte sich, wie sie klargekommen waren, bevor sie zum Team gestoßen war. Der Plan war gewesen, dass Chris gleich von Anfang an dabei sein sollte, aber wegen der unheilbaren Krebserkrankung ihrer Mutter war sie länger auf ihrer alten Arbeitsstelle geblieben, als sie erwartet hatte. Carol seufzte. Hätte Chris gleich von Anfang an zum Team gehört, wäre jetzt vielleicht Detective Inspector Don Merrick noch unter ihnen.
    »Lass das, es bringt nichts«, tadelte sie sich selbst, nahm die Tüte und fing an zu essen, ohne wirklich wahrzunehmen, was sie zu sich nahm. Es verging kaum ein Tag, ohne dass sie sich fragte, ob diese oder jene Sache für Don einen Unterschied gemacht hätte. Im Grunde wusste sie, dass sie nur nach einer Möglichkeit suchte, sich selbst statt ihm die Schuld zu geben. Tony hatte ihr mehr als einmal gesagt, es sei in Ordnung, auf Don wegen seines Verhaltens wütend zu sein. Aber es schien ihr immer noch nicht möglich und schon gar nicht richtig.
    Während Carol aß, machte sie ein paar Notizen, eine vorläufige Liste für die Fallbesprechung. Um Viertel vor neun war sie so weit. Es gab keinen Grund, die vorher

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