Schleichendes Gift
stets Steine in den Weg legen wollte. Er konnte versuchen, sich gegen sie durchzusetzen, konnte Gelegenheit zum gründlichen Lesen der Unterlagen und genug Zeit verlangen, damit er darüber nachdenken konnte, was sie wollte.
Aber im Moment war ihm das egal. Sein Bein schmerzte, er hatte Kopfweh und wusste, dass sie ihm nichts wegnehmen konnte, was wirklich wichtig war. Ja, sie würde ihm vielleicht Dinge vorenthalten, die ihm gehörten. Aber er war bis jetzt ohne sie zurechtgekommen und würde dies wahrscheinlich auch weiterhin können. Dass sie ihn in Ruhe ließ und aus seinem Zimmer verschwand, war viel wichtiger. »Okay«, seufzte er. Aber bevor er zum Unterschreiben ansetzen konnte, ging die Tür auf, und Dr. Chakrabarti segelte herein, wie ein wehrhafter Schoner von ihrer Flotte in Schlachtordnung umgeben.
Mit einer schnellen Bewegung ließ Vanessa die Unterlagen in ihrer Tasche verschwinden. Unter dem Vorwand, ihm die Hand zu tätscheln, nahm sie ihm den Kugelschreiber weg und schenkte Dr. Chakrabarti gleichzeitig ihr strahlendstes professionelles Lächeln.
»Sie müssen die berühmte Mrs. Hill sein«, konstatierte die Chirurgin. Tony vermutete, dass er sich nur einbildete, einen gewissen sarkastischen Unterton herauszuhören, denn er konnte nicht glauben, dass dem tatsächlich so war.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie das Knie meines Sohnes wieder so gut in Ordnung gebracht haben«, erwiderte Vanessa freundlich. »Er würde sich schwertun mit dem Gedanken, den Rest seines Lebens verkrüppelt zu sein.«
»Ich glaube, den meisten Menschen würde es so gehen.« Die Chirurgin wandte sich Tony zu. »Ich habe gehört, dass es gelungen ist, die Drainage herauszunehmen, ohne Sie umzubringen.«
Sein Lächeln kam ihm uralt und müde vor. »Gerade noch so. Ich glaube, der Schmerz war schlimmer als die ursprüngliche Verwundung.«
Dr. Chakrabarti hob die Augenbrauen. »Ihr Männer seid solche Schwächlinge. Gut, dass ihr keine Kinder zur Welt bringen müsst, sonst wäre die menschliche Rasse schon längst ausgestorben. Wir werden jetzt die große schwere Schiene entfernen und zusehen, was sich tut. Es wird höllisch wehtun, aber wenn dieser Schmerz zu schlimm ist, wird Ihnen der Versuch, zu stehen, sicherlich zu viel werden.«
»Ich gehe dann mal«, unterbrach Vanessa. »Ich hab es noch nie ertragen können, ihn leiden zu sehen.«
Tony wandte gegen diese Lüge nichts ein, denn ihr Verschwinden war es ihm wert. »Dann tun Sie’s eben«, seufzte er, als sich die Tür hinter Vanessa schloss. »Ich bin zäher, als ich aussehe.«
Auch Stacey Chen war zäher, als sie aussah. Das musste sie auch sein. Trotz ihres phänomenalen Talents fürs Programmieren und die Systemanalyse war ihr kaum etwas in den Schoß gefallen. Die Silikonwelt hätte eigentlich über ihr Geschlecht und ihre Abstammung von Einwanderern hinwegsehen sollen, hatte sich aber als genauso voreingenommen erwiesen wie der Rest der Welt. Das war einer der Gründe, warum sie einer glänzenden Universitätskarriere den Rücken gekehrt und sich für die Polizei entschieden hatte. Ihre erste Million hatte sie schon als Studentin mit einem intelligenten kleinen Programm verdient, das sie an einen amerikanischen Softwareriesen verkauft hatte. Es hatte dazu gedient, sein Betriebssystem vor eventuellen Softwarekonflikten zu schützen. Aber trotz ihres Erfolgs war sie mit Herablassung bedacht worden, und da wusste sie, dass sie nicht zu dieser Welt gehören wollte.
Aber bei der Polizei wusste man genau, woran man war. Niemand außer den Bürochefs, die kaum etwas mit der vordersten Front zu tun hatten, tat so, als spielten Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit keine Rolle. Man war voreingenommen, aber wenigstens ehrlich.
Damit konnte Stacey leben, denn am Polizeidienst liebte sie am allermeisten, dass er ihr die Gelegenheit gab, sich in den Computern anderer Leute umzutun. Sie konnte in fremden E-Mails herumschnüffeln, den Perversionen der Menschen nachgehen und deren Geheimnisse freilegen, die sie sicher vergraben zu haben glaubten. Und das war alles auch noch legal.
Die andere Sache an der Polizeiarbeit war, dass es keinen Interessenkonflikt zwischen ihren offiziellen Aufgaben und ihrer freiberuflichen Tätigkeit gab. Ihr Monatsgehalt reichte kaum für die laufenden Kosten ihres Penthouses mitten in der Stadt, ganz zu schweigen von den maßgeschneiderten Kostümen und Blusen, die sie zur Arbeit trug. Den Rest ihres Einkommens – und das
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