Schleichendes Gift
sie abzulösen. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte Melissa, und ihr sanftes Gesicht war erfüllt von Sorge.
»Fühlen?« Vanessa runzelte die Stirn. »Mir geht’s gut. Ich bin ja schließlich nicht im Krankenhaus.«
»Es muss aber doch ein schrecklicher Schock gewesen sein, zu sehen, dass Ihr Sohn so hilflos ist … Ich meine, als Mutter will man ja das Beste für die Kinder, man wünscht, sie von ihren Schmerzen befreien zu können …«
»Ja, schon«, entgegnete Vanessa, und ihr Tonfall machte deutlich, dass sie die Unterhaltung zu beenden wünschte. Aber sie begriff, wie gern Melissa etwas Persönlicheres gehört hätte. Von ihrer Ausbildung als Sozialarbeiterin hatte Melissa ein Verlangen nach Katastrophen im Leben anderer Menschen zurückbehalten. Manchmal fragte sich Vanessa, ob Melissas hervorragendes Organisationstalent genügte, um den Drang aufzuwiegen, mit ihren dicken Fingerchen in allen Schwachstellen jeder beliebigen Psyche herumzubohren, die ihr in die Quere kam. Heute war das Maß nahezu voll.
»Und natürlich macht Sie die Angst vollkommen fertig, ob er wieder richtig gesund wird«, mutmaßte Melissa. »Hat man Ihnen gesagt, ob er je wieder normal wird laufen können?«
»Er wird vielleicht ein Humpeln zurückbehalten. Und wahrscheinlich muss er noch einmal operiert werden.« Es brachte Vanessa fast um, so viel preisgeben zu müssen, aber sie akzeptierte, dass sie manchmal etwas nachgeben musste, um sich den Respekt ihres Teams zu erhalten. Während Melissa weiterlaberte, fragte sie sich, was es eigentlich bedeutete, sich vor mütterlicher Sorge zu verzehren. Mütter sprachen oft über die starken Bande zu ihren Kindern, aber sie hatte diese intensive Vertrautheit nie erfahren, von der die anderen redeten. Sie hatte Beschützergefühle für ihr Baby gehabt, aber die hatten sich kaum von dem unterschieden, was sie für ihren ersten kleinen Hund empfunden hatte, der als Kümmerling des Wurfs mit der Flasche großgezogen werden musste. Einerseits war sie erleichtert gewesen. Sie wollte nicht an dieses Kind gekettet sein, seine Abwesenheit körperlich spüren, wenn sie getrennt waren, wie sie es von anderen Frauen gehört hatte. Aber sie hatte von Anfang an gewusst, dass ihre Kälte etwas war, das man nicht eingestehen konnte. Soviel sie wusste, existierten vielleicht Millionen von Frauen, die ebenso wenig Innigkeit fühlten wie sie.
Aber solange es Frauen wie Melissa gab, die sich moralisch im Recht fühlten, würden Vanessa und ihre zahlreichen Schwestern sich verstellen müssen. Na ja, das war keine große Sache. Sie hatte im Leben fast immer dieses oder jenes vorgespiegelt. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt noch wusste, was echt war und was sie sich zusammengebastelt hatte.
Nicht, dass sie dies wichtig fand. Sie würde es so machen, wie sie es immer gemacht hatte. Sich um ihren eigenen Vorteil kümmern. Tony schuldete sie rein gar nichts. Sie hatte ihn ernährt und gekleidet und für ein Dach über seinem Kopf gesorgt, bis er auf die Universität ging. Wenn es eine Schuld abzutragen gab, dann in die andere Richtung.
Eine solche Ermittlergruppe zu leiten hieß, dass man sich nicht verstecken konnte, dachte Carol bitter. Als sich ihr sechster Sinn meldete und sie aufblickte, sah sie die Tür zum Einsatzzentrum aufgehen und John Brandon hereinkommen. Bis der Chief Constable das Büro durchschritten und ihren abgeteilten Raum erreicht hatte, konnte Carol sich ausreichend fassen und die wenigen vorliegenden Ergebnisse vor sich Revue passieren lassen, die sie ihm bereits mitteilen konnte.
Als er ihr kleines Reich betrat, stand sie auf. Gerade weil sie mit Brandon und seiner Frau befreundet war, gab sie sich immer ziemlich förmlich, wenn sie sich auf der halböffentlichen Bühne der Polizeizentrale trafen. »Sir«, begrüßte sie ihn mit angespanntem Lächeln und bot ihm mit einer Handbewegung einen Stuhl an.
Brandons Gesicht, das dem eines bekümmerten Bluthundes glich, spiegelte ihre eigene Bedrücktheit wider. Mit den vorsichtigen Bewegungen eines Mannes mit Rückenschmerzen nahm er Platz. »Heute ruht der Blick der Welt auf uns, Carol.«
»Mein Team wird sich Robbie Bishop mit genau dem gleichen Engagement widmen wie jedem anderen Opfer, Sir.«
»Ich weiß. Aber unsere Ermittlungen werden gewöhnlich nicht mit so viel Aufmerksamkeit verfolgt.«
Carol nahm einen Stift und rollte ihn zwischen den Fingern hin und her. »Wir hatten schon öfter solche Situationen«, sagte sie.
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