Schleier des Herzens (German Edition)
kann. Was bedeutet mir Reichtum, wenn ich keinen Erben habe? Nein, Herrin, versperrt mir nicht den Weg in die Gärten des Paradieses.«
Beatriz weinte nun wirklich. »Aber ich will es nicht! Es darf nicht sein, dass du für Zarahs Untaten büßt!« Sie wischte sich die Tränen so heftig aus dem Gesicht, dass sie damit den Seidenschleier löste, der ihr Antlitz weitgehend vor den Augen des Knaben verborgen hatte.
Mustafa beeilte sich, ihn aufzuheben. Verstohlen führte er ihn an die Lippen, bevor er ihn ihr reichte. Beatriz sah die Geste und wies ihn zurück.
»Ach, behalte ihn. Als Pfand meiner Zuneigung und Dankbarkeit. Du wirst ihn mir zurückgeben, wenn der Emir dich begnadigt hat und du mir erneut aufwartest.«
Mustafa sah fast ungläubig in ihr schönes Gesicht, schien sich die vollen Lippen, die fein geschwungene Kinnpartie und die großen Augen in den Farben des Meeres für immer einprägen zu wollen.
»Ihr seid zu gütig, meine Herrin. Es war mir eine große Ehre, Euch dienen zu dürfen. Doch schenkt mir ein Lächeln zum Abschied. Ich kann es nicht ertragen, Euch weinen zu sehen.«
Beatriz zwang sich, die Tränen zurückzudrängen. Es wurde ein Lächeln voller Zärtlichkeit. Sie hätte Mustafa gern umfasst wie ein Kind, aber sie wusste, er hatte gekämpft wie ein Mann. Er hätte Worte der Liebe verdient, aber weder sie noch eine andere Frau würde sie jemals für ihn sprechen.
»Salam, Léon!«, sagte sie leise. »Friede sei mit dir.«
Mustafa nickte ihr noch einmal zu und wandte sich dann ab. Er sah ihr nicht zu, während sie einen ihrer anderen Schleier notdürftig vor ihrem Gesicht drapierte, bevor sie an die Kerkertür klopfte. Er wollte nicht sehen, dass sie immer noch weinte.
Amir rief Beatriz an diesem Abend nicht zu sich, was sie schmerzte und verwirrte. Wagte er ihr nicht vor die Augen zu treten? Trauerte er womöglich um Zarah? Beatriz zermarterte sich das Hirn, während sie versuchte, trotz Blodwens pausenlos klagender Harfe Ruhe zu finden. Die hypnotischen Klänge des Instrumentes schienen den gesamten Harem zu erfüllen. Die Frauen konnten es kaum noch ertragen, aber Blodwen reagierte auf keine ihrer Bitten, doch wenigstens ein bisschen zu ruhen. Sie saß teilnahmslos vor ihrem Instrument, den Blick in weite Fernen gerichtet.
Beatriz dagegen konnte nicht stillsitzen.
Ayesha schüttelte über beide den Kopf.
»Du musst lernen, diese Dinge nicht so ernst zu nehmen«, riet sie Beatriz. »Ruft er dich heute nicht, so ruft er dich morgen. Das ist das Schicksal einer Frau im Harem, wir sind den Launen der Herren ausgeliefert. Es hat keinen Sinn zu grübeln, warum er dich nicht kommen lässt, oder später, warum er den Körper einer anderen dem deinen vorzieht ...«
»Amir wird nie ... Er hat mir geschworen, dass er nur mich ...«
Beatriz hielt inne in ihrer hochfahrenden Rede. Sie wusste doch selbst, wie albern das war. Sie mochte zurzeit Amirs Favoritin sein, vielleicht sogar bald seine einzige Gattin. Aber das Recht auf seine Treue hatte sie nicht. Das gab es nicht im Harem.
Müde sah sie aus den Fenstern ihres Gemaches. Eine atemberaubende Aussicht. Da unten lag Granada, eine lebensprühende Stadt, voller Plätze, Gärten und Märkte, auf denen sich die Menschen trafen. Aber sie würde nie ihren Fuß auf eine der Straßen setzen. Sie blieb hier gefangen ...
»Brütest du schon wieder über Träumen von deinemKastilien?«, neckte Ayesha sie. »Ich will dir eine Geschichte erzählen. Der Emir Al Mutamid verliebte sich einst in eine Maultiertreiberin und erhöhte sie zu seiner Gattin. Sie liebte ihn ebenfalls, aber es fiel ihr schwer, sich mit der Abgeschiedenheit im Harem abzufinden. Eines Tages schneite es im Frühjahr in der Sierra Nevada, und der Emir fand sie weinend am Fenster. Als er sie fragte, beklagte sie, dass sie nie wieder mit ihren Freundinnen im Schnee herumtoben würde. Da ließ der Emir vor ihrem Fenster Mandelbäume pflanzen, so viele, dass ihre Blüten den Boden des Gartens bedeckten wie der Schnee die Berge. – Dein Amir wird dich genau so lieben.«
Beatriz seufzte. »Das mag sein. Aber Mandelblüten sind kein Schnee. Hat das Mädchen das nicht gesagt?«
Ayesha schüttelte den Kopf.
»Das Mädchen wusste, wie kalt der Schnee ist, Beatriz.«
Früh am nächsten Morgen betrat der Emir die Frauengemächer. Die Korridore waren noch leer, aber er wusste, dass Beatriz zeitig in die Bäder ging. Ausnahmsweise schlug sein Herz nicht schneller vor Freude, sie gleich sehen
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