Schleier des Herzens (German Edition)
meisten zogen einen Schleier über die untere Hälfte des Gesichts. Oft schleppten sie Wasserkrüge oder Körbe mit Waren auf dem Kopf – ebenfalls ein befremdlicher Anblick für Beatriz. Wenn sie beide Hände brauchten, um die Last abzustützen, hielten sie den Schleier mit den Zähnen vor dem Gesicht fest. Das sah fast etwas komisch aus, aber Beatriz lächelte nicht. Sowürde also ihr Schicksal aussehen, wenn kein reicher Mann sie für seinen Harem erwarb? Dienstmagd oder Hure – wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.
Als den Reitern schließlich immer mehr Menschen entgegenkamen, ließ Amir eine Rast einlegen. Etwas abseits der Straße fand sich ein versteckter Platz, an dem Beatriz den Blicken der Passanten verborgen blieb. Die Männer hatten ein paar Bauern Früchte und Brot abgekauft und boten dem Mädchen davon an. Zu ihrer Verwunderung verspürte Beatriz großen Hunger. Gestern Abend hatte sie es noch abgelehnt, Brot und Datteln mit den Männern zu teilen, aber jetzt biss sie heißhungrig in einen Pfirsich, Auch dieser Tag war sonnig und warm, obwohl sie heute eigentlich den ganzen Morgen bergauf geritten waren und sich nun in einer Bergregion befanden. So heiß wie in Beatriz’ Heimat wurde es hier sicher nie; die Sierra Nevada, ein auch im Sommer mit Schnee bedeckter Gebirgszug, zeichnete sich am Horizont deutlich ab. Beatriz sah zu den Bergen hinauf und träumte sich in die Freiheit, worüber sie schließlich einschlief. Noch immer war sie zu Tode erschöpft von ihrem nächtlichen Abenteuer.
Als die Männer sie endlich weckten, war der Nachmittag weit fortgeschritten und der Mann, den Amir vorhin weggeschickt hatte, stieß wieder zu ihnen. Er reichte Beatriz ein Bündel Kleider.
»Hier, die Hosen werden Euch das Reiten erleichtern. Und der Tschador hält neugierige Blicke fern.« Der Anführer der Männer wies auf eine blaue Pluderhose und einen dunkelblauen, bodenlangen Schleier, der nur Schlitze für Beatriz Augen freiließ.
»Ich soll mich völlig vermummen?«, fragte Beatriz entsetzt mit einem Blick auf das formlose Kleidungsstück.
»Dies ist die Reisekleidung vornehmer Damen ausGranada. Wenn Ihr sie tragt, wird man Euch überall mit Ehrerbietung behandeln.«
»Ich denke, man legt hier so viel Wert auf Schönheit!«, blitzte Beatriz. »Aber was nützt das, wenn man sie unter solchen Zelten versteckt?«
»Der Koran sagt, die züchtige Frau soll ihr Haar bedeckt halten und ihre Schönheit nur ihrem Herrn enthüllen«, zitierte Amir. »So hält es jede gläubige Muslimin. Die vornehmsten Frauen halten jedoch all ihre Reize in der Öffentlichkeit versteckt. Allein ihr geliebter Herr soll sich an ihrem Anblick weiden. Der Tschador ist ein Vorrecht, meine Schöne, verachtet es nicht! Auf dem Markt mögt Ihr Euch danach sehnen, denn da ...«
»Was ist da?«, fragte Beatriz alarmiert. »Wie werde ich ausgestellt? Doch nicht etwa nackt?« Entsetzt funkelte sie ihn an. Bewundernd bemerkte Amir, wie ihre Augen im Schrecken und Zorn turmalinblau aufblitzten.
»Man kann nicht erwarten, dass der Käufer die Katze im Sack ersteht ...«, sagte er vieldeutig.
Beatriz war so eingeschüchtert, dass sie brav den sackartigen Umhang über die Reste ihrer Kleidung zog. Der Maure hatte Recht, wenn sie Hosen trug, tat das Reiten weniger weh. In den letzten Stunden der Reise nach Granada lenkte sie aber auch vieles von ihren Schmerzen ab. Die Straßen waren belebt, sie passierten Felder und Obstplantagen, ritten an weiß gekalkten Häusern vorbei, und Beatriz bewunderte die verspielte maurische Architektur mit ihren Spitzbögen und Türmchen. Schließlich durchquerten sie eine fruchtbare Ebene – die ›Vega‹ von Granada, wie Amir sie nannte –, und endlich enthüllte sich nach einer Wegbiegung der Blick auf die Hauptstadt Granada. Bunte Häuser und Paläste gruppierten sich um die Alhambra, die rote Burg, einen gewaltigen Gebäudekomplex.
»Dort lebt Euer König?« fragte Beatriz, wider Willen beeindruckt von der traumschönen Stadt vor der Kulisse schneebedeckter Berge.
»Der Emir«, berichtigte Amir. »Aber die Alhambra ist auch Kaserne und Trutzburg, sie bietet im Belagerungsfall Schutz für einen großen Teil der Bevölkerung. Von außen wirkt sie karg und kriegerisch, aber die Wohnräume sind äußerst komfortabel und der Harem ein Kleinod! – Das behauptet man jedenfalls«, setzte Amir rasch hinzu. Beatriz brauchte noch nicht zu wissen, dass ihr Entführer der Sohn des Herrschers über Granada war.
Weitere Kostenlose Bücher