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Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen

Titel: Schlichte Geschichten aus den indischen Bergen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudyard Kipling
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Miß Vezzis lassen werde. Und sie schwor bei ihrer Ehre und der ihrer Heiligen – die Eidesformel war etwas sonderbar: »In nomine Sanctissimae« (Gott weiß den Namen der Heiligen) und so weiter, daß auch sie nie von ihm lassen wolle. Der Schwur endigte mit einem Kuß auf Micheles Stirn, linke Backe und Mund.
    In der nächsten Woche wurde Michele versetzt. Und Miß Vezzis' Tränen flossen auf den Fensterrahmen eines Coupés dritter Klasse, als er auf dem Bahnhof Abschied nahm.
    Auf den Karten mit den Telegraphenlinien Indiens findet man eine lange Strecke an der Küste, von Backergunge bis Madras. Michele ging nach Tibasu, einer kleinen Telegraphennebenstelle im ersten Drittel dieser Linie, um Depeschen von Berhampur nach Chikakola weiterzugeben. Außerdem konnte er nach dem Dienst an Miß Vezzis und die Möglichkeit denken, einmal 50 Rupien im Monat zu verdienen. Das Tosen des bengalischen Meers und einen bengalischen Schreiber hatte er zur Gesellschaft, sonst nichts. Er schrieb verliebte Briefe an Miß Vezzis, deren Kuverts er innen mit Kreuzen beklebte.
    Als er fast drei Wochen in Tibasu war, kam er an den Wendepunkt seines Lebens.
    Man darf nie vergessen, daß die Einheimischen so wenig wie Kinder verstehen, was Autorität heißt, und was es bedeutet, sie zu verletzen. Und darum müssen sie stets und ständig die äußeren Zeichen unserer Autorität sichtbar vor Augen haben. Tibasu war ein gottverlassenes kleines Nest, in dem eigentlich nur ein paar Orissa-Mohammedaner wohnten.Denen kam nun der Gedanke, ganz für sich einen kleinen Aufstand in Szene zu setzen, da sie bereits längere Zeit nichts vom »Sahib« Steuereinnehmer gehört hatten und den indischen Richter gründlichst mißachteten. Aber die Hindus stellten sich ihnen entgegen und schlugen ihnen die Köpfe blutig, bis sie Gefallen an der Zügellosigkeit fanden. Und Hindus und Mohammedaner machten nun beide eine völlig planlose »Revolution«, nur um zu sehen, wie weit sie es treiben könnten. Sie plünderten sich gegenseitig die Läden und beglichen die Konten ihres persönlichen Grolles auf ihre Art. Es war ein unangenehmer kleiner Aufruhr, der aber nicht wert war, in der Zeitung erwähnt zu werden.
    Michele arbeitete gerade in seinem Dienstraum, als er jenen Lärm hörte, den man im ganzen Lehen nicht wieder vergißt, jenes »Ah-Yah« einer aufgebrachten Volksmenge. (Wenn dieser Lärm drei Töne tiefer wird und sich in ein dumpf dröhnendes »Uh« verwandelt, geht, wer es hört, am besten seiner Wege, zumal wenn er allein ist.) Der einheimische Polizeiaufseher stürzte zu Michele hinein und meldete, daß die Stadt in Aufruhr sei, und daß man das Telegraphenamt stürmen wolle. Der Schreier setzte seine Mütze auf und verschwand in aller Ruhe durchs Fenster. Der Polizeiaufseher folgte trotz seiner Angst dem alten Rasseinstinkt, der auch den winzigsten Tropfen weißen Blutes noch anerkennt, und fragte: »Was befiehlt der Sahib? –«
    Dieses »Sahib« war für Michele entscheidend. In all seiner entsetzlichen Angst fühlte er, der Mann mit dem Juden aus Cochinchma und dem knechtischen Onkel im Stammbaum, dennoch, daß er der einzige Vertreter englischer Autorität am Orte war. Er dachte an Miß Vezzis und die fünfzig Rupien und tat, was die Lage der Dinge forderte. Es gab sieben einheimische Polizisten in Tibasu und vier altmodische, nicht einmal gezogene Musketen. Alle sieben warenbleich vor Furcht, aber doch noch zu leiten. Michele schloß den Telegraphenapparat ab und schritt an der Spitze seiner Armee dem Gesindel entgegen. Als die schreiende Bande um die Ecke bog, legte er an und feuerte, und gleichzeitig, instinktiv, schossen auch seine Leute.
    Der ganze Haufen, – bis ins Mark feige Hunde, – heulte auf und rannte, davon; ein Toter und ein Sterbender waren geblieben, Michele war in Angstschweiß gebadet, aber er unterdrückte seine Schwäche und ging in den Ort hinunter an dem Haus vorbei, in dem sich der Richter verbarrikadiert hatte. Die Straßen waren menschenleer. Tibasu war noch verängstigter als Michele. Er war dem Pack zur rechten Zeit entgegengetreten.
    Er ging zum Telegraphenamt zurück und rief Chikakola nm Hilfe an. Noch ehe die Antwort kam, erschienen die Altesten von Tibasu als Abordnung. Sie erklärten, daß der Richter Micheles Handlungsweise für »verfassungswidrig« halte, und versuchten ihn einzuschüchtern. Aber das Herz Michele D'Cruzes war weiß und stark, denn er liebte Miß Vezzis, das Kindermädchen, und hatte zum

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