Schließe deine Augen
dass das alles real ist.«
»David, David, David, du weißt doch, was sie einem beim Schwimmenlernen sagen. Kämpf nicht gegen das Wasser an. Entspann dich und lass dich treiben. Atme einfach, dann trägt dich das Wasser von selbst. Genauso ist es hier. Kämpf nicht an gegen real, irreal, verrrückt, nicht verrückt. Das sind doch nur Worte. Nimm die Magie an. Den magischen Mr Jykynstyl. Und seine magischen Millionen. Ciao!«
Magie? Es gab keine Vorstellung auf der Welt, die Gurney so fremd war wie Magie. Keine Vorstellung, die so sinnlos und realitätsfern war.
Er stand am Schreibtisch und starrte durch das Westfenster. Der Himmel über dem Grat, der soeben noch blutrot gewesen war, war zu einem violettgrauen Schimmer verblichen, und im hohen Gras auf dem Feld hinter dem Haus wohnte nur noch ein Hauch von Grün.
Aus der Küche drang ein Scheppern, das Geräusch von Topfdeckeln, die aus dem überladenen Abtropfständer in die Spüle rutschten und anschließend von Madeleine wieder einsortiert wurden.
Gurney trat aus dem dunklen Arbeitszimmer in die erleuchtete Küche.
Madeleine wischte sich an einem Geschirrtuch die Hände ab. »Was ist mit dem Wagen passiert?«
»Was? Ach so. Ich hab ein Reh überfahren.« Die Erinnerung bedrängte ihn.
Ihr Gesicht verriet Furcht und Schmerz.
Er fuhr fort: »Ist aus dem Wald gerannt. Direkt vor mir. Keine Chance … zum Ausweichen.«
Sie ächzte leise. »Was ist mit dem Reh passiert?«
»Auf der Stelle tot. Hab nachgesehen. Nicht das geringste Lebenszeichen.«
»Was hast du getan?«
»Getan? Was hätte ich denn …?« Plötzlich spülte das Bild des jungen Rehs über ihn hinweg, das mit verdrehtem Kopf und glasig leerem Blick auf dem Seitenstreifen lag – ein mit längst vergangenen Emotionen getränktes Bild, mit Erinnerungen an einen anderen Unfall, die sich mit eisigem Griff um sein Herz schlossen.
Stumm schaute ihn Madeleine an. Als er sich langsam erholte und dem Grauen entwich, erkannte er in ihren Augen eine Trauer, die zu allem gehörte, was sie fühlte, auch zu ihrer Freude. Sie hatte den Tod ihres Sohns schon vor langer Zeit aufgearbeitet. Im Gegensatz zu ihm, der dazu nie bereit und fähig gewesen war. Er wusste, dass er es eines Tages tun musste. Aber jetzt noch nicht.
Vielleicht stand auch das zwischen ihm und Kyle, seinem erwachsenen Sohn aus erster Ehe. Doch solche Theorien rochen nach Therapeutendenken, und damit konnte er einfach nichts anfangen.
Madeleine machte sich daran, die Töpfe abzutrocknen. Ihre Frage kam aus einer völlig unverhofften Richtung. »Du willst die Sache also in einer Woche im Kasten haben – Bösewicht überführt und mit Schleifchen drum an die Polizei überstellt?« Er hörte in ihrer Stimme ein fragendes, freudloses Lächeln.
»Das ist der Plan.«
Sie nickte mit unverhohlener Skepsis.
Lange Zeit herrschte Schweigen, als sie mit ungewohnter Gründlichkeit abtrocknete und das Geschirr in die Anrichte räumte. Ihre Sorgfalt ging ihm allmählich auf die Nerven.
»Warum bist du eigentlich schon daheim?« Die Frage schoss ihm plötzlich wieder in den Sinn und platzte aggressiver aus ihm heraus als beabsichtigt.
»Was meinst du?«
»Ist heute nicht Strickabend?«
Sie nickte. »Wir haben ein bisschen früher Schluss gemacht.«
Er glaubte, einen Unterton in ihrer Stimme wahrzunehmen. »Wie das?«
»Es gab ein kleines Problem.«
»Ach?«
»Na ja … also … Marjorie Ann hat sich übergeben.«
Gurney blinzelte. »Was?«
»Sie hat sich übergeben.«
»Marjorie Ann Highsmith?«
»Genau.«
Er blinzelte erneut. »Was soll das heißen, sie hat sich übergeben?«
»Na was wohl?«
»Ich meine, wo? Direkt am Tisch?«
»Nein, nicht am Tisch. Sie ist aufgestanden und Richtung Bad gerannt und …«
»Und?«
»Sie hat es nicht ganz hingeschafft.« In Madeleines Augen hatte sich ein fast unmerkliches Leuchten gestohlen, das Funkeln des feinen Humors, mit dem sie fast alles betrachtete und der einen Ausgleich zu ihrer Traurigkeit bildete. Dieses Leuchten hatte in letzter Zeit gefehlt.
In diesem Moment wollte er nichts so sehr, wie dieses Leuchten anzufachen. Aber er durfte nicht übertreiben, weil es sonst gleich wieder erlöschen würde. »Da hat es wohl eine kleine Schweinerei gegeben?«
»Allerdings. Eine ziemliche Schweinerei sogar. Sie hat sich nämlich … äh … nicht auf einen Ort beschränkt.«
»Nicht … was?«
»Na ja, sie hat nicht nur auf den Boden gekotzt, sondern auch auf die Katzen.«
»Die
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