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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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schlummernde neue Finanzpotenzial.
    Hunderttausend Dollar? Dafür? Die betuchte Kunstwelt musste wirklich ein seltsamer Ort sein. Hunderttausend Dollar für Peter Piggerts Porträt. Der Preis war so lächerlich wie die Alliteration. Er musste unbedingt mit Sonya reden. Gleich morgen früh. Doch im Moment wollte er sich weniger auf den möglichen Wert des Bildes konzentrieren als auf den dargestellten Mann.
    Im Alter von fünfzehn hatte Piggert seinen Vater ermordet, um ohne Beeinträchtigung die zutiefst kranke Beziehung zu seiner Mutter ausleben zu können. Mit ihr hatte er zwei Töchter. Fünfzehn Jahre später, im Alter von dreißig, ermordete er seine Mutter, um ohne Beeinträchtigung die genauso kranke Beziehung zu seinen dreizehn und vierzehn Jahre alten Töchtern ausleben zu können.
    Dem durchschnittlichen Betrachter erschien Piggert als Inbegriff von Gewöhnlichkeit. Doch Gurney hatte von Anfang an etwas an seinen Augen gestört. Ihre dunkle Ruhe wirkte unheimlich unergründlich. Peter Piggert nahm die Welt auf eine Weise wahr, die ihn zu jeder ihm genehmen Handlung ermunterte und sie rechtfertigte, ungeachtet der Konsequenzen für andere. Gurney fragte sich, ob Scott Ashton an einen Mann wie Piggert gedacht hatte, als er seine provokative These vorstellte, dass ein Soziopath ein Mensch mit »vollkommenen Grenzen« sei.
    Als er sich in die beunruhigende Reglosigkeit dieser Augen vertiefte, war sich Gurney mehr als je zuvor sicher, dass der Hauptantrieb dieses Mannes ein überwältigendes Bedürfnis war, seine Umwelt zu kontrollieren. Seine Auffassung von der richtigen Ordnung der Dinge war unantastbar, seine Launen hatten uneingeschränkte Geltung. Mit der Bearbeitung des Verbrecherfotos hatte Gurney versucht, vor allem diesen Charakterzug aufzuzeigen. Der starre Tyrann hinter einem nichtssagenden Gesicht. Satan in der Maske des Jedermann.
    War es das, was Jykynstyl faszinierte? Das verborgene Böse? War es das, was er schätzte und wofür er ein kleines Vermögen zahlen wollte?
    Natürlich gab es einen wesentlichen Unterschied zwischen der Realität des Mörders und seinem Porträt. Der Kunstgegenstand bezog seine Faszination zum Teil aus der Beschwörung des Monsters – und paradoxerweise auch aus seiner Harmlosigkeit. Die gebändigte Schlange. Der gelähmte Teufel.
    Gurney lehnte sich zurück und blickte mit verschränkten Armen durchs Westfenster. Doch er hatte Mühe, sich von seinen inneren Bildern zu lösen. Als der rote Sonnenuntergang allmählich zu ihm durchdrang, erschien er ihm wie ein Blutfleck am meerblauen Himmel. Dann merkte er, dass er sich an eine Schlafzimmerwand aus der South Bronx erinnerte, eine türkisfarbene Wand, an der das Opfer einer Schießerei nach unten geglitten war. Vor vierundzwanzig Jahren, sein erster Mordfall.
    Fliegen. Es war August gewesen, und die Leiche hatte seit einer Woche auf dem Boden gelegen.

39
Real, irreal, verrückt, nicht verrückt
    Vierundzwanzig Jahre lang hatte er bis zum Hals in Mord und Totschlag gesteckt. Sein halbes Leben. Und nun, im Ruhestand … Was hatte Madeleine im Verlauf des Mellery-Gemetzels zu ihm gesagt? Dass ihn der Tod selbst jetzt noch stärker ansprach als das Leben.
    Das hatte er abgestritten und dagegen argumentiert, dass es nicht der Tod war, auf den sich seine Aufmerksamkeit und Energie richteten, sondern die Herausforderung, einen geheimnisvollen Mord zu klären. Und dabei ging es um Gerechtigkeit.
    Natürlich hatte sie das mit ihrem ironischen Blick quittiert. Von hehren Prinzipien ließ sich Madeleine bestimmt nicht beeindrucken, zumindest nicht von der Berufung auf Prinzipien, um in einer Diskussion die Oberhand zu behalten.
    Sobald die Debatte beendet war, holte ihn die Wahrheit ein: Rätselhafte Kriminalfälle und das Aufspüren der Täter übten eine magnetische Anziehungskraft auf ihn aus. Es war eine viel urtümlichere und stärkere Kraft als die, die ihn dazu bewegte, das Spargelbeet zu jäten. Mordermittlungen zogen ihn mehr in ihren Bann als alles andere in seinem Dasein.
    Das war das Gute daran. Und das Schlechte. Gut, weil es immerhin real war, denn manche Menschen kannten keine andere Faszination als ihre Fantasien. Schlecht, weil es wie ein unwiderstehlicher Sog auf ihn wirkte, der ihn von allem Wichtigen in seinem Leben wegriss – auch von Madeleine.
    Angestrengt überlegte er, wo sie im Augenblick gerade war, aber es war ihm entfallen, verdrängt von anderen Dingen. Von Jykynstyl und seiner

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