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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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über die Füße gezogen? Oder sie mit einer Chemikalie besprüht, um die Geruchsfährte zu unterbrechen? Damit er spurlos zu einem anderen Ort im Wäldchen oder auf die Straße dahinter gelangen konnte? Damit er zu Kiki Muller stoßen konnte, die im Auto auf ihn wartete, um vor dem Eintreffen der Polizei mit ihm wegzufahren? Oder um ihn zu ihrem Haus zu fahren? Wo er sie dann tötete und vergrub? Aber warum? Was hatte das alles für einen Sinn? Oder war diese Frage falsch, weil sie dem Täter praktische Erwägungen unterstellte? Angenommen, ein Großteil des Szenarios beruhte auf pathologischen Beweggründen, auf einer verzerrten Wahrnehmung? Doch dieser Gedankengang führte in eine Sackgasse. Denn wenn nichts einen Sinn ergab, konnte man sich auch keinen Reim darauf machen. Und Gurney hatte sehr wohl das Gefühl, dass das alles hinter dem Schleier von Wut und Wahnsinn einen Sinn ergab, einen ganz handfesten sogar.
    Warum war die Machete nur teilweise versteckt worden? Warum war die Klinge mit Laub bedeckt, aber nicht der Griff? Irgendwie störte ihn diese Diskrepanz am meisten. Wobei ›stören‹ wohl der falsche Ausdruck war. Eigentlich mochte er Diskrepanzen, weil er aus Erfahrung wusste, dass sie ihm letztlich den Zugang zur Wahrheit ermöglichten.
    Er setzte sich an den Tisch und spähte in den Wald, um sich den Weg des Fliehenden möglichst genau vorzustellen. Die Strecke vom Cottage zum Fundort der Machete lag fast vollständig verborgen, nicht nur hinter dem Laub des Wäldchens, sondern auch hinter den Rhododendronsträuchern, die den naturbelassenen Bereich vom Rasen und von den Blumenbeeten trennten. Gurney versuchte abzuschätzen, wie tief man in das Gehölz blicken konnte. Sicher nicht sehr tief. Flores hatte also keine Mühe gehabt, dort vorbeizulaufen, ohne von jemandem auf dem Rasen bemerkt zu werden. Der mit Abstand am weitesten entfernte Gegenstand im Wald, den Gurney von seiner Position ausmachen konnte, war der schwarze Stamm eines Kirschbaums. Und auch davon war nur ein schmaler Streifen durch eine wenige Zentimeter breite Lücke in den Büschen zu erkennen.
    Sicher, der Baumstamm lag noch hinter der Strecke, die Flores hatte nehmen müssen. Wenn also jemand in das Gehölz gespäht und im richtigen Moment genau diese Stelle anvisiert hätte, hätte er den Vorbeihuschenden bemerken können. Aber er hätte ja gar nicht darauf geachtet. Und dass sich jemand genau in diesem Augenblick auf diese Stelle konzentriert hatte, war ungefähr so wahrscheinlich wie …
    Mann!
    Gurney riss die Augen auf, weil er beinahe etwas Naheliegendes übersehen hätte.
    Angestrengt starrte er durch das Laub auf die schwarze, schuppige Rinde des Kirschbaums. Ohne ihn aus dem Blick zu lassen, steuerte er auf ihn zu – quer über die Terrasse, durch das Blumenbeet, in dem Ashton zusammengebrochen war, durch die Rhododendronbegrenzung des Rasens, in das Gehölz. Seine Richtung lief ungefähr im rechten Winkel auf die Strecke zu, die Flores vom Cottage zum Fundort der Machete zurückgelegt haben musste. Er wollte sichergehen, dass der Mann keine Möglichkeit gehabt hatte, den Kirschbaum zu umgehen.
    Als Gurney den Rand der Schlucht erreichte, an die er sich von seinem ersten Besuch hier erinnerte, fand er seine Annahme bestätigt. Der Baum stand auf der anderen Seite der tiefen und langen Schlucht, die sich mit steilen Wänden vor seinen Füßen hinzog. Jeder Weg vom Cottage, der hinter dem Baum vorbeiführte, setzte voraus, dass die Schlucht mindestens zweimal überquert wurde – was in der kurzen Zeit unvorstellbar war, weil gleich nach der Entdeckung der Leiche überall Menschen herumschwärmten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Geruchsspur diesseits der Schlucht verlief. Um vom Cottage zum Fundort der Machete zu gelangen, hatte der Täter also vor dem Baum vorbeilaufen müssen. Etwas anderes war einfach nicht möglich.
    Für die Fahrt von Tambury nach Walnut Crossing benötigte Gurney statt der üblichen eineinviertel Stunden fünfundfünfzig Minuten. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause, um sich noch einmal das Filmmaterial vom Hochzeitsempfang vorzunehmen. Zudem hatte seine Eile wohl etwas mit dem Bedürfnis zu tun, sich möglichst intensiv in den Perry-Mord zu vertiefen, der ihn, so grausig er auch sein mochte, viel weniger beunruhigte als die Sache mit Jykynstyl.
    Madeleines Auto stand neben dem Haus, und ihr Fahrrad lehnte am Gartenschuppen. Er vermutete sie in der Küche, doch als er durch die

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