Schließe deine Augen
Nachricht zweifellos als Drohung begriffen werden. Vielleicht war sie also ins Cottage gegangen, um über etwas viel Unangenehmeres zu reden als einen Hochzeitstoast.
Immer wenn Gurney damit beschäftigt war, die Bruchstücke aus Beweisen, Deutungen, Gerüchten und logischen Verbindungen zusammenzusetzen, die sein Verständnis eines Verbrechens ausmachten, war sein Verstand ganz davon erfüllt, ohne jedes Gefühl für Zeit und Raum. So war er zugleich überrascht und nicht überrascht, als er feststellte, dass es schon fünf nach fünf war. Gleiches galt für die Steifheit in seinen Gliedern, als er aufstand.
Madeleine war noch immer nicht zurück. Vielleicht sollte er etwas zum Abendessen zubereiten oder zumindest nachsehen, ob sie etwas auf die Arbeitsplatte gestellt hatte, das in den Herd geschoben werden musste. Als er gerade in die Küche wollte, klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Auf dem Display stand Jack Hardwick.
»Hey, Supercop, du hast vielleicht gruslige Bekannte!«
»Das heißt?«
»Hoffentlich hast du dich mit dem Typen nicht im Schulhof rumgetrieben.«
Gurney wurde langsam mulmig. »Wovon redest du überhaupt, Jack?«
»Auch noch empfindlich. Ist dieser Goldschatz ein guter Kumpel von dir?«
»Lass den Quatsch. Worum geht es?«
»Um den Gentleman, mit dem du einen gehoben hast. Von dem du das Glas eingesteckt hast. Von dem ich die Fingerabdrücke nachschauen sollte. Dämmert’s dir allmählich, Sherlock?«
»Was hast du rausgefunden?«
»Einiges.«
»Jack …«
»Zum Beispiel, dass er Saul Steck heißt. Beruflicher Name Paul Starbuck.«
»Und was ist er von Beruf?«
»Zurzeit nichts. Zumindest nichts Aktenkundiges. Bis vor fünfzehn Jahren war er ein aufstrebender Hollywoodschauspieler. Fernsehwerbung, zwei Filme.« Hardwick gab den Geschichtenerzähler und machte nach jedem Satz eine dramatische Pause. »Dann hatte er ein kleines Problem.«
»Jack, geht’s vielleicht ein bisschen schneller? Was für ein kleines Problem?«
»Soll eine Minderjährige vergewaltigt haben. Als das in die Medien kam, sind mehrere andere Opfer aus der Versenkung aufgetaucht. Saul-Paul wurde wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung angeklagt. Hat gern vierzehnjährige Mädchen betäubt und haufenweise eindeutige Fotos gemacht. Das war das Ende seiner Karriere als Schauspieler. Hätte für den Rest seines Lebens im Knast landen können. Leider war es nicht so. Wäre für den Drecksack der beste Ort gewesen. Aber die reichen Verwandten haben ihm ein medizinisches Gutachten spendiert, um ihn in eine psychiatrische Anstalt einweisen zu lassen. Aus der wurde er vor fünf Jahren in aller Stille entlassen. Seitdem ist er von der Bildfläche verschwunden. Derzeitiger Aufenthalt unbekannt. Außer du weißt was darüber. Ich meine, du musst das nette Gläschen doch irgendwoher haben.«
49
Kleine Jungs
Gurney stand an der Terrassentür vor den lavendelfarbenen Relikten eines spektakulären Sonnenuntergangs, von dem er kaum etwas mitbekommen hatte, und versuchte, die letzten Ausläufer des Jykynstyl-Erdbebens zu verarbeiten.
Informationen. Er brauchte Informationen. Was musste er als Erstes herausfinden? Vielleicht holte er sich besser einen Block, um die Fragen aufzulisten und nach Wichtigkeit zu sortieren. Eine Sache fiel ihm sofort ein: Wem gehörte das Sandsteinhaus?
Weniger klar war, wie er den Fragen nachgehen sollte.
Wieder das alte Dilemma. Um sich aus der Falle zu befreien, musste er erfahren, wessen Falle es war. Doch wenn er einfach losstürmte, ohne eine Ahnung, wie die Antwort aussehen könnte, konnte er sich noch tiefer in das Ganze verstricken. Unbeantwortete Fragen drohten andere unbeantwortbar zu machen.
»Hallo!«
Es war Madeleines Stimme. Wie eine Stimme, von der man am Morgen geweckt, von der man ins Hier und Jetzt zurückgeholt wurde.
Er wandte sich zum Flur vor der Küche. »Bist du das?« Natürlich war sie es. Was für eine alberne Frage. Als sie nicht antwortete, stellte er sie noch einmal, lauter.
Stirnrunzelnd erschien sie in der Küchentür.
»Bist du gerade reingekommen?«
»Nein, ich war den ganzen Nachmittag im Vorraum. Was soll diese Frage?«
»Ich hab die Tür gar nicht gehört.«
»Und trotzdem«, bemerkte sie fröhlich, »bin ich hier.«
»Ja, hier bist du.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
Sie zog die Augenbraue hoch.
»Mir geht’s gut. Ein bisschen Hunger hab ich.«
Ihr Blick glitt zu einer Schüssel auf der Anrichte. »Die Kammmuscheln müssten
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