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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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inzwischen aufgetaut sein. Willst du sie sautieren, während ich Wasser für den Reis aufsetze?«
    »Klar.« Mit dieser einfachen Tätigkeit konnte er vielleicht ein paar Augenblicke dem Strudel von Ängsten entfliehen, der ihn verschlang.
    Er sautierte die Muscheln in Olivenöl, Knoblauch, Zitronensaft und Kapern. Madeleine kochte inzwischen Basmatireis und bereitete einen Salat aus Orangen, Avocados und gewürfelten roten Zwiebeln zu. Es kostete ihn große Mühe, sich auf das Geschehen hier im Zimmer zu konzentrieren. Hat gern vierzehnjährige Mädchen betäubt und haufenweise eindeutige Fotos gemacht.
    Erst als das Abendessen schon zur Hälfte beendet war, merkte er, dass Madeleine ihre Wanderung über die gewundenen Pfade beschrieben hatte, die die zwanzig Hektar ihres Grundstücks mit den hundertvierzig Hektar ihres Nachbars verbanden. Kaum ein Wort davon war bei ihm angekommen. Mit unverzagtem Lächeln unternahm er einen verspäteten Versuch, ihr zuzuhören.
    »… unglaublich intensives Grün, selbst im Schatten. Und unter der Farndecke waren die kleinsten violetten Blumen, die man sich vorstellen kann.« Ihre Augen leuchteten heller als alle Lampen im Zimmer. »Fast mikroskopisch. Wie winzige blaue und violette Schneeflocken.«
    Blaue und violette Schneeflocken? Herr im Himmel! Die Distanz zwischen ihrer Euphorie und seiner Anspannung ließ ihn beinahe laut aufstöhnen. Ihr Feld smaragdgrüner Farne und sein Albtraum giftiger Dornen. Ihre lebendige Aufrichtigkeit und seine … seine was?
    Begegnung mit dem Teufel?
    Reiß dich zusammen, Gurney. Wovor hast du denn so furchtbare Angst?
    Angesichts der Antwort verfinsterte sich sein inneres Verlies nur noch mehr.
    Du hast Angst vor dir selbst. Angst davor, was du vielleicht getan hast.
    Gefangen in einer Art emotionaler Lähmung saß er da. Hin und wieder nahm er einen Bissen und tat so, als würde er Madeleines Schilderung zuhören. Aber je mehr sie sich begeisterte für die Schönheit der Sonnenhutblüten, für die herrlich duftende Luft, für das Azur der wilden Astern … desto einsamer, verlorener und verrückter fühlte er sich. Dann registrierte er, dass Madeleine verstummt war und ihn besorgt musterte. Vielleicht hatte sie ihm eine Frage gestellt und wartete auf eine Antwort. Doch er wollte nicht zugeben, wie zerstreut er war und warum.
    »Hast du schon mit Kyle geredet?« Ihre Worte kamen wie aus dem Nichts. Oder hatte sie sie wiederholt? Oder das Thema gewechselt, während er in sich versunken war?
    »Kyle?«
    »Dein Sohn.«
    Er hatte den Namen nur wiederholt, um zurück in die Gegenwart zu finden. Doch es war zu schwierig, das jetzt zu erklären. »Hab’s probiert. Wir haben beide angerufen und Nachrichten hinterlassen. Mehrmals.«
    »Probier’s noch mal. So lange, bist du ihn erreichst.«
    Er nickte, wollte nicht streiten, wusste nicht, was er sagen sollte.
    Sie lächelte. »Es wäre gut für ihn. Gut für euch beide.«
    Abermals nickte er.
    »Du bist doch sein Vater.«
    »Ich weiß.«
    »Na dann.«
    Nach dieser entschiedenen Feststellung machte sie sich daran, den Tisch abzuräumen.
    Er schaute ihr zu, wie sie zweimal zur Spüle ging. Als sie mit einem feuchten Schwamm und einem Küchenpapier wiederkam, um den Tisch abzwischen, sagte er: »Er redet immer übers Geld.«
    Sie hob den Serviettenständer, um darunter zu wischen. »Na und?«
    »Er will Rechtsanwalt werden.«
    »Das muss doch nichts Schlechtes sein.«
    »Irgendwie dreht es sich immer um das große Geld, das große Haus, das große Auto.«
    »Vielleicht will er schlicht bemerkt werden.«
    »Bemerkt?«
    »Kleine Jungs möchten von ihrem Vater bemerkt werden.«
    »Kyle ist doch kein kleiner Junge mehr.«
    »Natürlich ist er das«, entgegnete sie. »Und wenn du keine Notiz von ihm nimmst, muss er eben den Rest der Welt beeindrucken.«
    »Was heißt, ich nehme keine Notiz von ihm? Das ist doch nur Psychogewäsch.«
    »Vielleicht, wer weiß?« Madeleine beherrschte die Kunst, einem Angriff auszuweichen und davon unberührt zu bleiben. Wieder einmal taumelte er ins Leere.
    Er blieb am Tisch sitzen, während sie abspülte. Nach einer Weile fielen ihm die Augen zu. Wie er schon häufig festgestellt hatte, war Erschöpfung ein Nebenprodukt starker Anspannung. Er sank in eine Art Halbschlaf.

50
Tickende Zeitbombe
    »Du musst ins Bett.« Madeleines Stimme.
    Er öffnete die Augen. Bis auf eines hatte sie alle Lichter gelöscht und war mit einem Buch unter dem Arm auf dem Weg aus der Küche. Sein

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