Schließe deine Augen
man daran festhielt. Und etwas Dunkleres. Hass auf das eigene Leben?
Genug , mahnte er sich. Zu leicht verwechselte man Vermutungen mit Einsichten. Zu leicht verliebte man sich in eine wilde Spekulation und folgte ihr dann in den Abgrund.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter«, forderte er sie auf.
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als hätte auch sie einen Gedankengang beiseitegeschoben.
»Jillian war schwierig.« Ihre Erklärung hatte den dramatischen Ton des laut vorgetragenen Anfangs einer Geschichte. Wahrscheinlich hatte sie sie schon oft erzählt. »Mehr als schwierig. Jillian musste Medikamente nehmen, um nur schwierig zu bleiben und nicht völlig unerträglich zu werden. Sie war wild, narzisstisch, promiskuitiv, hinterhältig, gemein. Süchtig auf Oxycodon, Ecstasy und Crack. Eine überzeugende Lügnerin. Gefährlich frühreif. Mit superfeinen Antennen für die Schwächen anderer. Unberechenbar in ihren Gewaltausbrüchen. Ungesunde Leidenschaft für ungesunde Männer. Und das alles trotz der besten Therapie, die man mit Geld kaufen kann.« Sie klang merkwürdig erregt von dieser Litanei der Laster, eher nach einer Sadistin, die eine Fremde mit einer Rasierklinge malträtiert, als nach einer Mutter, die die emotionalen Störungen ihres Kindes beschreibt. »Hat Ihnen Hardwick nichts über Jillian erzählt?«
»Er ist nicht so ins Detail gegangen.«
»Was hat er Ihnen gesagt?«
»Dass sie aus einer Familie mit viel Geld kommt.«
Sie gab ein lautes Bellen von sich, das nicht so recht zu diesem zarten Mund passen wollte. Überrascht erkannte Gurney, dass es ein Lachen war.
»O ja!« Das schroffe Lachen hallte noch in ihrer Stimme nach. »Wir sind auf jeden Fall eine Familie mit viel Geld. Wirklich sauviel Geld.« Der vulgäre Ausdruck kam ihr geradezu genüsslich über die Lippen. »Sind Sie jetzt schockiert, weil ich nicht klinge wie eine trauernde Mutter?«
Gelähmt vom Gespenst seines eigenen Verlusts hatte er Mühe, Worte zu finden. Schließlich sagte er: »Mir sind schon seltsamere Reaktionen auf den Tod untergekommen, Mrs Perry. Ich weiß nicht, wie wir … wie jemand in Ihrer Lage klingen müsste.«
Sie wirkte nachdenklich. »Ihnen sind schon seltsamere Reaktionen auf den Tod untergekommen, aber ist Ihnen auch schon mal ein seltsamerer Tod untergekommen als der von Jillian?«
Er schenkte sich die Antwort. Die Frage war zu theatralisch. Je länger Gurney in diese intensiven Augen blickte, desto schwerer fiel es ihm, seine Wahrnehmungen zu einer schlüssigen Persönlichkeit zusammenzusetzen. War sie schon immer so gewesen, oder hatte erst die Ermordung ihrer Tochter sie in diese unvereinbaren Stücke zerrissen?
»Erzählen Sie mir mehr über Jillian«, bat er.
»Zum Beispiel?«
»Neben den persönlichen Merkmalen, die Sie erwähnt haben – wissen Sie vielleicht etwas über das Leben Ihrer Tochter, das Flores ein Motiv für seine Tat gegeben haben könnte?«
»Fragen Sie mich, warum Hector Flores es getan hat? Ich habe keine Ahnung. Die Polizei auch nicht. In den letzten vier Monaten ist sie zwischen zwei Theorien hin- und hergesprungen, beide vollkommen idiotisch. Die erste lautet, dass Hector schwul und heimlich in Scott Ashton verliebt war, dass er Jillian wegen der Beziehung zu Ashton hasste und sie aus Eifersucht ermordet hat. Und die Gelegenheit, sie in ihrem Brautkleid zu töten, war einfach unwiderstehlich für seine melodramatische Sensibilität. Nette Geschichte. Die zweite Theorie widerspricht der ersten. Neben Scott wohnen ein Schiffsingenieur und seine Frau. Der Ingenieur war häufig auf Reisen. Die Frau ist zur gleichen Zeit verschwunden wie Hector. Die Genies von der Polizei folgern daraus, dass sie eine Affäre hatten. Jillian hat es rausgefunden und gedroht, das Geheimnis zu verraten, um Hector eins auszuwischen, mit dem sie ebenfalls eine Affäre hatte, und dann hat eins zum anderen geführt, und …«
»… und er hat ihr beim Hochzeitsempfang den Kopf abgeschnitten, um sie zum Schweigen zu bringen?«, fuhr Gurney ungläubig dazwischen. Sofort bedauerte er die Brutalität seiner Äußerung und setzte zu einer Entschuldigung an.
Aber Val Perry blieb völlig ungerührt. »Ich sage Ihnen doch, das sind Hohlköpfe. Für diese Armleuchter war Hector Flores entweder ein verklemmter Schwuler, der wie ein Irrer nach der Liebe seines Arbeitgebers geschmachtet hat, oder ein lateinamerikanischer Macho, der jede Frau in Reichweite bestiegen und jede, die sich gesträubt hat, mit
Weitere Kostenlose Bücher