Schließe deine Augen
nicht vollspritzt.«
Gurney nickte langsam. »Ein wahrhaft soziopathischer Moment …«
Hardwick zog eine zustimmende Grimasse. »Nicht, dass das Abhacken ihres Kopfs noch groß Zweifel am Geisteszustand des Mörders zulässt. Aber die … Sachlichkeit dieser Vorgehensweise hat was Beunruhigendes an sich. So einer muss doch Eiswasser in den Adern haben.«
Erneut nickte Gurney. Er spürte förmlich, wie ihn Hardwicks Gedankengang mitriss.
Mehrere Sekunden lang schwiegen die beiden tief in Gedanken versunken.
»Auch mir macht eine kleine Merkwürdigkeit zu schaffen«, meinte Gurney schließlich. »Nichts Makabres, nur verwirrend.«
»Was?«
»Die Gästeliste auf dem Hochzeitsempfang.«
»Du meinst das Who’s who der Bonzen aus der Gegend?«
»Ist dir am Tatort jemand aufgefallen, der jünger als fünfunddreißig war? Mir auf dem Film jedenfalls nicht.«
Mit zusammengekniffenen Augen blätterte Hardwick seine Erinnerungen durch. »Wahrscheinlich nicht. Na und?«
»Garantiert niemand unter dreißig?«
»Abgesehen von den Leuten vom Partyservice niemand. Und?«
»Hab mich nur gefragt, warum bei der Hochzeit keine Freunde der Braut waren.«
11
Die Beweise auf dem Tisch
Als Hardwick nach Sonnenuntergang eine halbherzige Einladung zum Abendessen ablehnte und aufbrach, ließ er Gurney die DVD und eine Kopie der Fallakte da, die sämtliche Aufzeichnungen, sowohl über seine Ermittlungen in den ersten Tagen als auch über die von Arlo Blatt in den folgenden Monaten, enthielt. Mehr hätte sich Gurney gar nicht wünschen können, und das fand er beunruhigend. Schließlich ging Hardwick kein kleines Risiko ein, wenn er Polizeiakten vervielfältigte, aus der Zentrale entfernte und sie ohne Genehmigung an eine Privatperson weitergab.
Warum hatte er das getan?
Die einfache Antwort – dass jeder wesentliche Fortschritt, den Gurney erzielte, einen gewissen hohen BCI -Beamten blamieren würde, den Hardwick nicht ausstehen konnte – bot irgendwie keine ausreichende Erklärung für die Gefahr, der er sich aussetzte. Vielleicht ließ sich die volle Antwort dem Aktenmaterial entnehmen. Gurney hatte es auf dem Hauptesstisch unter dem Kronleuchter ausgebreitet – dem hellsten Platz im Haus, wenn durch die Fenster kein Licht mehr einfiel.
Die umfangreichen Berichte und anderen Dokumente hatte er nach der Art der darin enthaltenen Informationen in Stapel aufgeteilt. Jeden Stapel sortierte er chronologisch, soweit das möglich war.
Alles in allem ergab sich eine beängstigende Ansammlung von Daten: Erstberichte, Feldnotizen, Fortschrittsberichte, Zusammenfassungen und Protokolle von zweiundsechzig Vernehmungen (in einer Länge von einer bis vierzehn Seiten), Festnetz- und Mobilfunkaufzeichnungen, Tatortfotos von BCI -Beamten, zusätzliche Standbilder aus dem Hochzeitsvideo, Formulare zur genauen Beschreibung des Verbrechens, zur Erfassung von gestohlenen Gegenständen, zur Überprüfung von Datenbänken, ein Phantombild von Hector Flores, der Autopsiebericht, Beweismittelaufstellungen, gerichtsmedizinische Berichte, DNA -Blutprobenanalysen, der Hundestaffelbericht, die Liste der Hochzeitsgäste mit Kontaktdaten und Informationen über die Art der Beziehungen zum Opfer oder Scott Ashton, Pläne und Luftaufnahmen des Ashton-Anwesens, Innenskizzen des Cottages mit Abmessungen des vorderen Zimmers, biografische Datenblätter und natürlich die DVD , die Gurney schon kannte.
Bis er alles in eine brauchbare Ordnung gebracht hatte, war es sieben Uhr. Zuerst war er überrascht, wie spät es schon war, doch eigentlich kannte er das von sich. Wenn sein Verstand voll beschäftigt war, beschleunigte sich die Zeit immer, und voll beschäftigt war er eigentlich nur, wie er sich ein wenig kleinlaut eingestand, wenn es galt, ein Rätsel zu lösen. Madeleine hatte einmal angemerkt, dass sich sein Leben auf eine einzige obsessive Tätigkeit verengt hatte: Geheimnisse um den Tod anderer Leute zu lüften. Nicht mehr, nicht weniger, nichts sonst.
Er griff nach dem ersten Aktenordner. Die Tatortberichte der Kriminaltechniker. Das oberste Formularblatt beschrieb die unmittelbare Umgebung des Cottages. Das nächste dokumentierte die erste visuelle Bestandsaufnahme der Innenausstattung. Sie war bemerkenswert kurz. Gegenstände, die im Normalfall vom Kriminallabor auf Spuren untersucht wurden, fehlten völlig. Das Mobiliar im Cottage beschränkte sich auf den Tisch, auf dem man den Kopf des Opfers entdeckt hatte, den schmalen Stuhl mit
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