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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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auffallenden Wahn getrieben. In diese Kategorie fiel auch Hector Flores mit seinem nichtssagenden, verschlossenen Gesicht, in dem Gurney keinen Widerhall der abscheulichen Gewalttat erkennen konnte.
    An das Formular mit den physischen Merkmalen war ein Blatt mit der Überschrift »Ergänzende Erklärung von Dr. Scott Ashton am 11. Mai 2009« geheftet. Unterzeichnet war es von Ashton und von Hardwick als zuständigem Ermittler. Bezogen auf den beschriebenen Zeitraum war die Erklärung relativ kurz.
    Zum ersten Mal begegnete ich Hector Flores im April 2006. Er war Tagelöhner und fragte an meiner Tür nach Arbeit. Noch am selben Tag verrichtete er erste Tätigkeiten in meinem Garten: Mähen, Harken, Mulchen, Düngen und so weiter. Zuerst sprach er fast kein Englisch, aber er lernte sehr schnell und beeindruckte mich mit seiner Energie und Intelligenz. Als ich in den folgenden Wochen feststellte, dass er ein begabter Tischler war, vertraute ich ihm immer mehr Wartungs- und Reparaturarbeiten an. Ab Mitte Juli war er sieben Tage die Woche in und um das Haus beschäftigt und übernahm auch das regelmäßige Putzen. Er wurde immer mehr zu einem idealen Hausangestellten, der viel Eigeninitiative und praktischen Verstand bewies. Ende August fragte er, ob er gegen einen Teil seines Lohns das kleine unmöblierte Cottage hinter dem Haus bewohnen konnte, wenn er hier war. Trotz leichter Bedenken stimmte ich zu, und bald darauf lebte er ungefähr vier Tage pro Woche dort. In einem Trödelladen besorgte er sich einen kleinen Tisch und zwei Stühle und später einen billigen Computer. Mehr wollte er nicht. Er schlief in einem Schlafsack, weil es ihm so am liebsten war.
    Im Lauf der Zeit erkundete er verschiedene Bildungsmöglichkeiten im Internet. Seine Lust auf Arbeit wurde immer nur noch größer, und allmählich entwickelte er sich zu einer Art persönlichem Assistenten. Gegen Ende des Jahres vertraute ich ihm überschaubare Geldbeträge an, und er erledigte für mich Einkäufe und andere Besorgungen mit großem Geschick. Sein Englisch war inzwischen grammatisch fehlerlos, wenn auch noch stark akzentbehaftet, und sein Auftreten war sehr charmant. Häufig ging er für mich ans Telefon, richtete mir Nachrichten aus und teilte mir sogar subtile Nuancen zum Ton oder zur Laune des Anrufers mit. (Im Nachhinein kommt es mir abenteuerlich vor, dass ich mich so sehr auf einen Mann verließ, der kurz vorher als Tagelöhner bei mir aufgetaucht war. Aber das Arrangement funktionierte gut, und fast zwei Jahre lang gab es meines Wissens kein einziges Problem.)
    Als Jillian Perry im Herbst 2008 in mein Leben trat, veränderte sich etwas. Flores wurde launisch und zog sich zurück, fand immer einen Vorwand, um dem Haus fernzubleiben, wenn Jillian da war. Anfang 2009, nach der Bekanntgabe unserer Heiratsabsichten, nahmen seine Launen ein beunruhigendes Ausmaß an. Mehrere Tage lang blieb er völlig verschwunden. Nach seiner Rückkehr behauptete er, schreckliche Dinge über Jillian entdeckt zu haben – dass ich bei einer Heirat mit ihr mein Leben aufs Spiel setzte. Einzelheiten wollte er aber nicht nennen. Angeblich konnte er mir nicht mehr verraten, ohne die Quelle seiner Informationen preiszugeben. Er bat mich eindringlich, meinen Heiratsentschluss zu überdenken. Als klar wurde, dass ich nicht bereit war, irgendetwas zu überdenken, solange ich nicht wusste, was er meinte, und dass ich keine unbewiesenen Anschuldigungen hinnehmen würde, schien er sich damit abzufinden. Allerdings ging er Jillian weiter aus dem Weg.
    Aus heutiger Sicht hätte ich ihn natürlich wegen dieser Anzeichen von Labilität entlassen müssen; aber mit der Arroganz meines Berufs ging ich davon aus, die Art des Problems aufdecken und es lösen zu können. Ich bildete mir ein, ein großes Bildungsexperiment durchzuführen, und wollte mich einfach nicht der Tatsache stellen, dass ich es mit einer komplexen Persönlichkeit zu tun hatte, und dass alles außer Kontrolle geraten könnte. Außerdem muss ich bekennen, dass mir der Gedanke widerstrebte ihn wegzuschicken, da er mir das Leben in vieler Hinsicht leichter und angenehmer machte. Ich kann gar nicht genug betonen, wie sehr mich seine Intelliegenz, sein rasches Lernen und sein breites Spektrum von Talenten beeindruckten – auch wenn das im Licht der Ereignisse wie purer Selbstbetrug erscheint. Meine letzte Begegnung mit Hector Flores fand am Hochzeitstag statt. Jillian, die natürlich wusste, dass Hector sie verachtete,

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