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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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niederließen und auf der gesprenkelten Haut unsichtbar wurden.
    Er schlug einen leisen Ton an, doch es klang nur herablassend. »Ich glaube, du machst dir Sorgen über Dinge, die nichts mit der Realität zu tun haben.«
    »Sprichst du von der Sorge darüber, dass du schon fest entschlossen bist?«
    »Maddie, wie oft muss ich es noch sagen? Ich habe mich zu nichts verpflichet. Gegenüber niemandem. Ich habe keine Entscheidung getroffen, mehr zu tun, als die Fallakten zu lesen.«
    Sie bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte – einem Blick, der ihn durchdrang: wissend, sanft und sonderbar traurig.
    Sie setzte die Deckel wieder auf die Glasgefäße.
    Er schaute ihr zu, bis sie die Sachen zurück in den Kühlschrank gestellt hatte. »Willst du nichts essen?«
    »Im Moment hab ich keinen Hunger. Ich glaube, ich geh unter die Dusche. Wenn mich das wacher macht, esse ich was. Wenn ich müde werde, leg ich mich schlafen.« Als sie an dem mit Dokumenten beladenen Tisch vorbeikam, fügte sie hinzu: »Bevor morgen unsere Gäste kommen, räumst du das aber weg, damit wir es nicht dauernd vor Augen haben, oder?« Sie verließ das Zimmer, und eine halbe Minute später hörte er die Badtür.
    Gäste? Morgen?
    O Gott, richtig! Hatte Madeleine nicht erwähnt, dass jemand zum Abendessen kommen sollte? Es war nur der Schatten einer Erinnerung, aufbewahrt in einem toten Winkel seines Gehirns.
    Verdammt, was ist eigentlich los mit dir? Ist in deinem Kopf überhaupt kein Platz mehr für den Alltag? Für ein einfaches, gutes Leben, das man mit gewöhnlichen Leuten teilt? Oder war vielleicht dieser Platz nie vorhanden? Vielleicht warst du schon immer so drauf. Vielleicht ist es hier auf diesem abgeschiedenen Hügel – ohne die Anforderungen der Arbeit, die einen bequemen Vorwand lieferten, um nie am Leben der Menschen teilnehmen zu müssen, die du angeblich liebst – nur schwerer, die Wahrheit zu verheimlichen. Ist die schlichte Wahrheit einfach, dass dir alle Menschen egal sind?
    Er trat um die Kücheninsel und schaltete die Kaffeemaschine ein. Wie Madeleine war ihm der Appetit vergangen. Aber die Vorstellung von Kaffee war verlockend. Schließlich stand ihm eine lange Nacht bevor.

12
Eigenartige Fakten
    Zunächst nahm sich Gurney das Phantombild von Hector Flores vor.
    Eigentlich betrachtete er solche computergenerierten Gesichtsdarstellungen mit gemischten Gefühlen. Auf der Basis von Zeugenangaben zusammengefügt, spiegelten sie die Stärken und Schwächen aller Aussagen von Augenzeugen wider.
    Im Fall von Hector Flores gab es allerdings gute Gründe, dem Bild zu trauen. Die beschreibenden Einzelheiten stammten von einem Psychiater mit entsprechend geschulter Beobachtungsgabe, der überdies fast drei Jahre lang täglich Kontakt mit dem Gesuchten gehabt hatte. Bei Informationen dieser Qualität konnte es eine Computerdarstellung sogar mit einem guten Foto aufnehmen.
    Das Porträt zeigte einen gut aussehenden, wenn auch eher unscheinbaren Mann von Mitte dreißig. Der Knochenaufbau des Gesichts war regelmäßig, ohne hervorstechende Merkmale. Die Haut ziemlich faltenfrei, die Augen dunkel und gefühllos. Das schwarze Haar relativ gepflegt, der Scheitel nicht übermäßig korrekt. Nur eine Sache fiel Gurney auf, weil sie das ansonsten gewöhnliche Erscheinungsbild auf schockierende Weise durchbrach: Dem Mann fehlte das rechte Ohrläppchen.
    Dem Kunstbild beigefügt war eine Aufstellung körperlicher Daten. (Gurney ging davon aus, dass auch diese Angaben überwiegend von Ashton stammten und daher als verlässlich einzustufen waren.) Hector Flores war einen Meter fünfundsiebzig groß; Gewicht dreiundsechzig bis achtundsechzig Kilo; Herkunft Lateinamerika; Augen dunkelbraun; Haare schwarz, glatt; Gesichtshaut hellbraun, rein; Zähne unregelmäßig, oben links ein goldener Schneidezahn. In der Rubrik »Narben und andere Kennzeichen« gab es zwei Einträge: das fehlende Ohrläppchen und ausgeprägte Narben am rechten Knie.
    Wieder vertiefte sich Gurney in das Bild, um den Funken von Irrsinn zu erhaschen, eine Ahnung des eiskalten Killers, der eine Frau enthauptet hatte, mit dem Kopf das spritzende Blut von sich ablenkte und dann diesen Kopf mit dem Gesicht zum Körper auf dem Tisch drapierte. In den Augen mancher Mörder – Charlie Mansons zum Beispiel – brannte völlig unverhohlen eine dämonische Intensität. Doch die meisten Mörder, die Gurney in seiner Karriere zur Strecke gebracht hatte, wurden von einem weniger

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