Schließe deine Augen
wollte ihn unbedingt dazu bringen, unsere Heirat zu akzeptieren, und auf ihre Bitte hin habe ich noch einen letzten Versuch unternommen, ihn zur Teilnahme an der Feier zu überreden. Also ging ich gegen Mittag in das Cottage. Wie ein Block aus Stein saß er am Tisch. Pro forma sprach ich noch einmal eine Einladung aus, die er jedoch wieder ablehnte. Er war ganz in Schwarz gekleidet – schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, schwarzer Gürtel, schwarze Schuhe. Vielleicht hätte ich gewarnt sein sollen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.
An dieser Stelle hatte Hardwick eine handschriftliche Notiz eingefügt: »Obenstehende schriftliche Erklärung von Scott Ashton wurde durch folgende Fragen und Antworten ergänzt.«
JH : Sie haben also praktisch nichts über die Herkunft dieses Mannes gewusst?
SA : Das ist richtig.
JH : Er hat so gut wie nichts über sich erzählt?
SA : Richtig.
JH : Und trotzdem hatten Sie so viel Vertrauen zu ihm, dass er auf Ihrem Grundstück wohnen, Ihr Haus betreten und sogar für Sie ans Telefon gehen durfte?
SA : Mir ist klar, dass das idiotisch klingt, aber ich habe die Weigerung, über seine Vergangenheit zu reden, als eine Art Beweis seiner Ehrlichkeit betrachtet. Ich meine, wenn er etwas verheimlichen hätte wollen, wäre es doch viel glaubwürdiger gewesen, sich eine fiktive Vergangenheit auszudenken. Doch das hat er nicht getan. Und das hat mich irgendwie beeindruckt. Ja, ich habe ihm vertraut, obwohl er nicht über seine Vergangenheit geredet hat.
Gurney las das gesamte Dokument noch einmal langsam durch, dann ein drittes Mal. Fast noch spannender als die Schilderung selbst fand er das, was sie wegließ. Zum Beispiel fehlte ihr jede Wut. Und das tiefe Grauen, das diesen Mann am Tag vor dieser Erklärung gepackt hatte, als er Sekunden nach dem Betreten des Cottages schreiend durch die Tür wankte und zusammenbrach.
War diese Veränderung womöglich auf die Einnahme von Medikamenten zurückzuführen? Ein Psychiater hatte natürlich leichten Zugang zu geeigneten Beruhigungsmitteln. Oder steckte mehr dahinter? Aus Worten auf Papier ließ sich das unmöglich erschließen. Gurney hätte es interessant gefunden, den Mann zu treffen, ihm in die Augen zu schauen, seine Stimme zu hören.
Immerhin erklärten die Angaben über den unmöblierten Zustand des Cottages und Flores’ Wunsch, so zu wohnen, die im forensischen Bericht festgestellte Kahlheit der Räume – wenigstens zum Teil. Was sie nicht erklärten, war die Abwesenheit von Kleidern, Schuhen und Toilettenartikeln im Bad. Sie erklärten auch nicht, was mit dem Computer passiert war. Und warum Flores, nachdem er all seine persönlichen Sachen entfernt hatte, ein Paar Stiefel zurückgelassen hatte.
Gurneys Blick wanderte über die Stapel von Unterlagen auf dem Tisch. Ihm fiel ein, dass er vorhin zwei Vorfallsmeldungen gesehen hatte, und nicht nur eine, wie er es in einem Mordfall erwartet hätte. Er zog die zweite unter der ersten hervor.
Sie stammte von der Polizei von Tambury, die am 17. Mai 2009 um 16.15 Uhr gerufen worden war – exakt eine Woche nach dem Mord. Die Anzeige erstattet hatte Dr. Scott Ashton, aus der 42 Badger Lane, Tambury, New York. Den Vorfall aufgenommen hatte Sergeant Keith Garbelly. Laut einer Notiz war eine Kopie an das Bureau of Criminal Investigation der New York State Police weitergeleitet worden, zu Händen von Senior Investigator J. Hardwick. Gurney vermutete, dass er die Kopie einer Kopie las.
Anzeigenerstatter saß mit Tasse Tee auf dem Tisch an Südseite der Residenz, zum Hauptrasen gewandt. Seine Gewohnheit bei schönem Wetter. Hörte einzelnen Schuss, sah gleichzeitig, wie Teetasse zerbrach. Rannte durch Terrassentür ins Haus und rief Polizei von Tambury an. Bei meinem Erscheinen wirkte der Anzeigenerstatter angespannt und ängstlich. Erstvernehmung im Wohnzimmer. Anzeigenerstatter wusste nicht, woher Schuss kam, vermutete ›große Distanz, ungefähr aus dieser Richtung‹ (deutete durchs Fenster auf bewaldeten Hügel, mindestens 300 Meter entfernt). Anzeigenerstatter hatte keine Erklärung für Vorfall, bis auf ›möglichen Zusammenhang mit Ermordung meiner Frau‹. Welcher Art dieser Zusammenhang sein könnte, wusste er nicht. Spekulierte, dass ihn Hector Flores vielleicht ebenfalls töten wollte, konnte aber kein Motiv angeben.
Die beigeheftete Kopie eines Formulars legte den Schluss nahe, dass das BCI die Sache schnell übernommen hatte, da es für den Fall zuständig war. Das Formular
Weitere Kostenlose Bücher