Schließe deine Augen
»Jetzt?«
»Wenn es möglich wäre, Sir. Damit wäre mir sehr geholfen.«
Muller nickte bedächtig und trat mit einer vagen Geste zurück.
Gurney gelangte in die Eingangshalle eines gut erhaltenen Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert mit Dielenböden und zahlreichen originalen Holzelementen. Die leise Musik von vorhin war jetzt besser zu vernehmen. Adeste Fideles , ein Weihnachtslied, das aus dem Keller zu kommen schien. Seltsam unangebracht für die Jahreszeit. Dazu ein anderes Geräusch, eine Art tiefes, rhythmisches Brummen, das ebenfalls von unten heraufdrang. Links von Gurney öffnete sich eine Doppeltür auf einen Speisesaal mit einem riesigen Kamin. Vor ihm erstreckte sich die breite Halle zum hinteren Teil des Hauses, wo man durch eine Glassprossentür auf einen scheinbar endlosen Rasen blickte. An der Seite führte eine breite Treppe mit kunstvollem Geländer hinauf zum ersten Stock. Rechts lag ein altmodischer Salon mit dick gepolsterten Sofas und Sesseln, antiken Tischen und Kommoden, über denen Seelandschaften im Stil von Winslow hingen. Gurney hatte den Eindruck, dass das Haus gepflegter war als das Grundstück. Muller lächelte leer.
»Schönes Haus«, bemerkte Gurney freundlich. »Sieht gemütlich aus. Vielleicht können wir uns zum Reden einen Moment hinsetzen?«
Wieder die Bandaufzeichnung. »In Ordnung.«
Als er sich nicht bewegte, deutete Gurney fragend zum Salon.
»Natürlich.« Muller blinzelte, als wäre er gerade aufgewacht. »Wie war Ihr Name noch mal?« Ohne die Antwort abzuwarten, ging er voraus zu zwei Sesseln vor dem Kamin, die einander gegenüberstanden. »Also«, warf er beiläufig hin, als beide Platz genommen hatten, »worum geht es?«
Wie alles an Carl Muller war der Ton der Frage ungefähr zwanzig Grad aus der lotrechten Achse verschoben. Wenn der Mann nicht eine angeborene Neigung zur Verwirrung hatte – was bei einem so exakten Beruf wie Schiffsmaschinentechnik kaum denkbar war –, musste es an irgendwelchen Medikamenten liegen, was nach dem Verschwinden seiner Frau zusammen mit einem Mörder wohl verständlich war.
Vielleicht wegen der Position der Lüftungsschächte waren die Bruchstücke von Adeste Fideles und das leise Brummen in diesem Raum noch deutlicher zu hören als in der Halle. Gurney war versucht, danach zu fragen, entschied sich aber dann dafür, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren.
»Sie sind ein Detective.« Mullers Äußerung war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Gurney lächelte. »Ich will Sie nicht lange aufhalten, Sir. Ich möchte mich nur nach ein paar Sachen erkundigen.«
»Carl.«
»Pardon?«
»Carl.« Er starrte in den Kamin, als hätte die Asche des letzten Feuers sein Gedächtnis wachgerüttelt. »Mein Name ist Carl.«
»Okay, Carl. Erste Frage. Ist Ihnen bekannt, ob Mrs Muller vor dem Tag ihres Verschwindens Kontakt zu Hector Flores hatte?«
»Kiki.« Wieder eine Erleuchtung aus der Asche.
Gurney wiederholte die Frage mit geändertem Namen.
»Das muss sie doch, oder? Unter den Umständen?«
»Welche Umstände?«
Mullers Augen schlossen und öffneten sich so träge, dass man es nicht als Blinzeln bezeichnen konnte. »Ihre Therapiesitzungen.«
»Therapiesitzungen? Bei wem?«
Zum ersten Mal seit Betreten des Salons schaute Muller ihn direkt an. »Dr. Ashton.«
»Der Doktor hat eine Praxis in seinem Haus? Nebenan?«
»Ja.«
»Wie lange ist sie schon zu ihm gegangen?«
»Ein halbes Jahr oder ein Jahr. Weniger, mehr? Ich kann mich nicht erinnern.«
»Wann war ihre letzte Sitzung?«
»Am Dienstag. Sie waren immer am Dienstag.«
Gurney verlor kurz die Orientierung. »Sie meinen den Dienstag vor Ihrem Verschwinden?«
»Genau, Dienstag.«
»Und Sie gehen davon aus, dass Mrs Muller – Kiki – Kontakt zu Flores hatte, wenn sie Ashton zur Therapie aufgesucht hat?«
Muller antwortete nicht. Sein Blick hing wieder am Kamin.
»Hat sie je über ihn geredet?«
»Über wen?«
»Hector Flores.«
»Über solche Leute haben wir uns nie unterhalten.«
»Was für Leute?«
Muller stieß ein freudloses Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Das ist doch naheliegend, oder?«
»Naheliegend?«
»Sein Name.« Plötzlich lag scharfe Verachtung in Mullers Stimme. Noch immer fixierte er den Kamin.
»Ein spanischer Name, meinen Sie?«
»Die sind doch alle gleich. Unser Land wird verraten und verkauft.«
»Von den Mexikanern.«
»Die sind nur die Spitze des Eisbergs.«
»Und so einer war Hector?«
»Waren Sie schon mal in so
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