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Schließe deine Augen

Schließe deine Augen

Titel: Schließe deine Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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für die Fortsetzung des Gesprächs schlug Marian Eliot ihr Haus vor, das auf der anderen Straßenseite und ungefähr hundert Meter hügelabwärts stand. Doch dann fand das Ganze nicht im Haus statt, sondern auf der Einfahrt, wo sie Gurney kurzerhand zum Abladen von Torf- und Mulchsäcken aus ihrem Land Rover verdonnerte.
    Ihre ›Keule‹ hatte sie gegen eine Hacke vertauscht und stand nun am Rand eines Rosengartens. Während Gurney die Säcke in eine Schubkarre wuchtete, fragte sie nach seiner genauen Funktion innerhalb der Untersuchung und nach seiner Position in der Hierarchie der State Police.
    Seine Erwiderung, dass die Mutter des Opfers ihn als »Ermittlungsberater« außerhalb der offiziellen Polizeiuntersuchung engagiert hatte, quittierte sie mit einem skeptischen Blick. »Und was soll das bitte schön sein?«
    Er riskierte eine unumwundene Antwort. »Das verrate ich Ihnen gern, wenn Sie es für sich behalten. Unter dieser Bezeichnung kann ich Ermittlungen durchführen, ohne mir beim Staat eine Lizenz als Privatdetektiv holen zu müssen. Wenn Sie meine Referenzen als Exbeamter der New Yorker Polizei überprüfen wollen, rufen Sie einfach das schlaue Rhinozeros an – er heißt übrigens Jack Hardwick.«
    »Hah! Viel Glück mit dem Staat! Meinen Sie, Sie könnten den Karren hier rüberschieben?«
    Gurney verstand das als Zeichen dafür, dass sie ihn und die Gegebenheiten akzeptierte. Er legte noch drei weitere Strecken vom Land Rover zum Rosengarten zurück. Danach lud sie ihn ein, sich zu ihr auf eine weiß emaillierte Gusseisenbank unter einem verwilderten Apfelbaum zu setzen.
    Sie wandte sich ihm direkt zu. »Was ist das jetzt mit den fehlenden Puzzleteilen?«
    »Darauf kommen wir noch, aber erst muss ich Ihnen einige Fragen stellen, um mich zu orientieren.« Er beobachtete ihre Körpersprache, um die Mitte zwischen Entschlossenheit und Entgegenkommen zu finden. »Erste Frage: Wie würden Sie Dr. Ashton in ein oder zwei Sätzen beschreiben?«
    »Gar nicht. So ein Mensch lässt sich nicht in ein, zwei Sätzen erfassen.«
    »Ein komplexer Mensch also?«
    »Sehr.«
    »Irgendein beherrschender Charakterzug?«
    »Darauf kann ich beim besten Willen keine Antwort geben.«
    Gurney vermutete, dass man bei Marian Eliot am schnellsten etwas erreichte, wenn man sie nicht drängte. Er lehnte sich zurück und betrachtete die vor langer Zeit beschnittenen, krummen Äste des Apfelbaums.
    Seine Ahnung erwies sich als richtig. Nach einer Minute fing sie an zu reden. »Ich erzähle Ihnen jetzt was über Scott, aber Sie müssen sich schon selbst zusammenreimen, was es bedeutet und ob es auf so was hinausläuft wie einen Charakterzug.« Das letzte Wort betonte sie voller Verachtung. Anscheinend empfand sie diesen Begriff als unzulässige Vereinfachung.
    »Scott hat noch studiert, als er das Buch geschrieben hat, durch das er berühmt wurde – zumindest in bestimmten akademischen Kreisen. Es hat den Titel Die Empathiefalle. Darin argumentiert er auf zwingende Weise – mit biologischen und psychologischen Belegen –, dass Empathie im Grunde eine Abgrenzungsschwäche ist, dass die empathischen Gefühle von Menschen füreinander eigentlich eine Form von Verwirrung sind. Er wollte darauf hinaus, dass wir aneinander Anteil nehmen, weil wir an irgendeiner Stelle im Gehirn nicht zwischen dem Selbst und dem anderen unterscheiden. Zum Beleg hat er ein schlichtes, elegantes Experiment durchgeführt, bei dem die Versuchspersonen einem Mann zusahen, der einen Apfel schälte. Dabei schnitt sich der Mann zum Schein in den Finger. Die Reaktionen der Versuchspersonen wurden auf Video festgehalten. Praktisch alle zuckten reflexartig zusammen. Nur zwei der Probanden haben gar keine Reaktion gezeigt, und als diese beiden später einen psychologischen Test machten, wurden bei ihnen die mentalen und emotionalen Merkmale von Soziopathen festgestellt. Scotts Hypothese war, dass wir zusammenzucken, wenn jemand anders sich schneidet, weil wir den Bruchteil einer Sekunde lang nicht zwischen dem anderen und uns selbst unterscheiden. Mit anderen Worten, die Grenze eines normalen Menschen ist unvollkommen, während die eines Soziopathen vollkommen ist. Der Soziopath verwechselt sich und seine Bedürfnisse nie mit denen eines anderen und hat daher auch kein Mitgefühl für andere.«
    Gurney lächelte. »Klingt nach einer These, die Staub aufwirbeln könnte.«
    »Oh, das hat sie auch. Natürlich hatten die Reaktionen viel mit Scotts Wortwahl zu tun:

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