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Schlink,Bernhard

Schlink,Bernhard

Titel: Schlink,Bernhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommerlügen
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Eröffnungen und Einweihungen, Jubiläen,
Hochzeiten, Geburts- und Todesfälle standen?
    Noch
drei New York Times lagen
neben der Theke. Er hätte gerne alle drei gekauft, damit sonst niemand sie
kaufte und läse. Aber das hätte den Eigentümer aufmerken lassen. Also kaufte er
nur eine. Außerdem kaufte er eine kleine Flasche Whisky, die ihm der
Eigentümer in eine braune Papiertüte einpackte. Auf dem Weg zum Auto kam er an
aufgeschichteten blauen Böcken und Police-Line-Balken vorbei, mit denen die
Polizei die Hauptstraße für das Stadtfest absperren würde. Er fuhr noch mal
zur Werkstatt des Technikers und traf ihn wieder nicht an. Er konnte sagen, er
habe es versucht.
    Die
Post, die er aus dem Postfach nahm, sah er gar nicht an. Er steckte sie in das
aufgeplatzte Futter der Sonnenblende. Er fuhr wieder zum Aussichtspunkt,
parkte und trank. Der Whisky brannte in Mund und Kehle, er verschluckte sich
und rülpste. Er sah auf die braune Papiertüte mit Flasche in seiner Hand und
dachte an die Stadtstreicher, die in New York mit braunen Papiertüten auf den
Bänken im Central Park saßen und tranken. Weil sie ihre Welt nicht zusammengehalten
hatten.
    Als
er das letzte Mal hier gesessen war, hatte der Wald noch bunt geleuchtet. Heute
waren die Farben matt, vom Herbst verbraucht und vom Dunst gedämpft. Er
kurbelte das Fenster runter und atmete kühle, feuchte Luft. Er hatte sich so auf
den Winter gefreut, den ersten Winter im neuen Haus, auf Abende am Kamin,
gemeinsames Basteln und Backen, Adventskranz und Weihnachtsbaum, Bratäpfel und
Glühwein. Auf Kate, die mehr Zeit für Rita und ihn haben würde.
    Auch
auf die New Yorker Freunde, die sie im Winter endlich einmal einladen wollten.
Die echten Freunde, Peter und Liz und
Steve und Susan, nicht die Meute von Agentur-, Verlags- und Medienleuten, mit
denen sie sich auf irgendwelchen Empfängen und Partys getroffen hatten. Peter
und Liz schrieben,
Steve unterrichtete, und Susan machte Schmuck - sie waren die Einzigen, mit
denen sie über die Gründe ihres Umzugs aufs Land ernsthaft gesprochen hatten.
Sie waren auch die Einzigen, denen sie ihre neue Adresse gegeben hatten.
    Ja,
sie hatten ihre neue Adresse. Was, wenn sie kämen? Weil sie die New York Times gelesen und gefolgert
hatten, die gute Nachricht habe Kate noch nicht erreicht, und weil sie deren
Überbringer sein wollten?
    Er
nahm wieder einen Schluck. Er durfte sich nicht betrinken. Er musste einen
klaren Kopf behalten und sich überlegen, was er zu tun hatte. Die Freunde
anrufen? Dass Kate vom Preis wisse, dass ihr nur nicht nach dem Rummel gewesen
sei? Die Freunde kannten Kate, wussten, wie gerne sie sich feiern ließ, würden
ihm nicht glauben und erst recht kommen.
    Panik
stieg in ihm auf. Wenn morgen die Freunde vor der Tür stünden, wäre Kate
übermorgen in New York, und alles würde wieder losgehen. Wenn er das nicht
wollte, musste er sich was einfallen lassen. Mit welchen Lügen konnte er die
Freunde fernhalten?
    Er
stieg aus dem Auto, trank die Flasche aus und warf sie in hohem Bogen in den
Wald. So war's in seinem Leben immer gewesen: Wenn er zu wählen hatte, dann
zwischen zwei schlechten Alternativen. Zwischen dem Leben mit der Mutter und
dem mit dem Vater, als die beiden sich schließlich trennten. Zwischen einem
Studium, für das er Geld verdienen musste, was ihn alle freie Zeit kostete,
und einer Arbeit, die er hasste, die ihm aber Zeit zum Schreiben ließ. Zwischen
Deutschland, in dem er sich immer fremd gefühlt hatte, und Amerika, wo er
ebenfalls fremd blieb. Er wollte es endlich auch einmal so gut wie andere
haben. Er wollte zwischen guten Alternativen wählen können.
    Er
rief die Freunde nicht an. Er fuhr nach Hause, berichtete vom erfolglosen
Besuch beim Techniker und dass er es am nächsten Tag noch mal versuchen wolle,
notfalls bei einem anderen Techniker in der Nachbarstadt und bei der Telefongesellschaft.
Kate war ärgerlich, nicht über ihn, aber über das Leben auf dem Land, dessen
Infrastruktur mit der in New York nicht mithalten konnte. Als sie merkte, dass
ihm das weh tat, lenkte sie ein. »Lass uns in die Infrastruktur investieren
und einen Mast auf dem Berg hinter dem Haus bauen. Wir können's uns leisten. Dann
sind wir von den Technikern und Telefongesellschaften immerhin ein bisschen
unabhängiger.«
     
    8
     
    Mitten
in der Nacht wachte er auf. Es war kurz vor zwei. Er stand leise auf und sah
zwischen den Vorhängen aus dem Fenster. Der Himmel war klar, und auch ohne

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