Schlink,Bernhard
war, die Vertrautheit
der häuslichen Abläufe. Weil Thanksgiving bevorstand,
erzählte er Rita von den Pilgervätern und den Indianern, und sie malten ein
großes Bild, auf dem alle zusammen feierten, die Pilger, die Indianer, Kate,
Rita und er.
»Kommen
sie zu uns? Die Väter und die Indianer?«
»Nein,
Rita, sie sind schon lange tot.«
»Aber
ich möchte, dass jemand kommt!«
»Ich
auch.« Kate stand in der Tür. »Ich bin fast fertig.«
»Mit
dem Buch?«
Sie
nickte. »Mit dem Buch. Und wenn ich fertig bin, feiern wir. Und laden die
Freunde ein. Und meine Agentin und meine Lektorin. Und die Nachbarn.«
»Fast
fertig - was heißt das?«
»Am
Ende der Woche. Freust du dich nicht?«
Er
ging zu ihr und nahm sie in die Arme. »Klar freue ich mich. Es ist ein
fantastisches Buch. Es wird tolle Besprechungen kriegen, bei Barnes &
Noble in großen Stapeln bei den Bestsellern liegen und ein toller Film werden.«
Sie
hob den Kopf von seiner Schulter, lehnte sich zurück und lächelte ihn an. »Du
bist ein Schatz. Du warst so geduldig. Du hast dich um mich gekümmert und um
Rita und um das Haus und den Garten, und es war tagein, tagaus das Gleiche, und
du hast dich nie beschwert. Jetzt geht das Leben wieder los, ich versprech's
dir.«
Er
sah durch das Fenster auf den Küchengarten, den Holzstoß, den Komposthaufen.
Der Teich war am Ufer ein bisschen gefroren, bald würden sie Schlittschuh
laufen können. War das kein Leben? Wovon redete sie?
»Am
Montag fahre ich in die Stadt - ich muss ins Internetcafe und außerdem
telefonieren. Wollen wir Thanksgiving mit den Freunden feiern?«
»So
kurzfristig können wir sie nicht einladen. Und was soll Rita unter so vielen
Erwachsenen?«
»Jeder
wird sich freuen, wenn er Rita vorlesen oder mit ihr spielen darf. Sie ist
genauso ein Schatz wie du.«
Was
sagte sie da? Er war genauso ein Schatz wie seine Tochter?
»Ich
kann Peter und Liz auch
fragen, ob sie ihre Neffen mitbringen wollen. Wahrscheinlich wollen ihre Eltern
sie an Thanksgiving bei
sich haben, aber fragen kann nicht schaden. Und meine Lektorin hat einen Sohn
in Ritas Alter.«
Er
hörte ihr nicht weiter zu. Sie hatte ihn betrogen. Winter oder Frühling hatte
sie versprochen, und stattdessen wollte sie jetzt fertig werden. In ein paar
Monaten würde die Agentin den Preis ohne Aufwand zu Hause bei einem Glas
Champagner übergeben haben. Jetzt würde der volle Rummel um den Preis
ablaufen, nur mit ein bisschen Verspätung. Konnte er etwas dagegen tun? Was
hätte er bis Winterende oder Frühlingsanfang gemacht? Hätte er Kate überreden
können, mit der Reparatur der Technik so lange zu warten und sich damit zu
begnügen, dass er ihre E-Mails aus dem Internetcafe in der Stadt mitbrachte?
Sie traute ihm mit der Post, warum nicht auch mit den E-Mails? Vielleicht hätte
es zu schneien begonnen und nicht mehr aufgehört, wie 1876, und sie hätten sich
durch den Winter geschrieben, gelesen, gespielt, gekocht, geschlafen, ohne sich
für die Welt draußen zu interessieren.
»Ich
gehe hoch. Wir drei feiern am Sonntag schon mal, ja?«
10
Sollte
er aufgeben? Aber Kate war noch nie so ruhig gewesen und hatte noch nie so
leicht geschrieben wie im letzten halben Jahr. Sie brauchte das Leben hier.
Auch Rita brauchte es. Er würde seinen Engel nicht dem Verkehr und den Verbrechen
und den Drogen in der Stadt aussetzen. Wenn er es schaffte, Kate noch ein Kind
zu machen oder lieber zwei, würde er sie zu Hause unterrichten. Bei einem Kind
kam es ihm pädagogisch fragwürdig vor, aber bei zweien oder dreien war es okay.
Vielleicht war es auch bei einem okay. War Rita bei ihm nicht allemal besser
aufgehoben als in einer schlechten Schule?
Am
Sonntag stand Kate früh auf und war am späten Nachmittag fertig. »Ich bin
fertig«, rief sie, rannte die Treppe hinunter, nahm Rita auf den einen Arm und
ihn in den anderen und tanzte mit ihnen um die Holzpfeiler. Dann band sie sich
die Schürze um. »Wollen wir kochen? Was haben wir zu Hause? Worauf habt ihr
Lust?«
Kate
und Rita waren beim Kochen und Essen von überbürdender Ausgelassenheit und
lachten über alles und jedes. Aus dem Lächle wird's Bächle - so hatte seine
Großmutter die Enkel vor den Tränen gewarnt, die auf übermäßiges Lachen folgen,
und so wollte er Kate und Rita auch warnen. Dann fand er es sauertöpfisch und
ließ es bleiben. Aber er wurde immer finsterer. Die Ausgelassenheit der beiden
kränkte ihn.
»Eine
Geschichte, eine Geschichte«, bettelte Rita
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