Schlink,Bernhard
Schneeschmelze im Frühling wieder jemand ins Dorf fand.
Er
sah in den Himmel. Ah, wenn es jetzt schneite! Zuerst leicht, so dass, wer
unterwegs war, noch nach Hause käme, und dann so dicht, dass für Tage kein Auto
mehr fahren könnte. Wenn unter der Last des Schnees ein Zweig bräche und die
neue Telefonleitung herunterrisse. Wenn niemand Kate vom Gewinn des Preises
benachrichtigen und zur Verleihung des Preises einladen, niemand sie in die
Stadt holen und mit Interviews, Talkshows und Empfängen belästigen könnte. Mit
der Schneeschmelze würde der Preis seinen Weg zu Kate finden, und sie würde
sich nicht weniger freuen als jetzt. Aber der Trubel wäre vorbei, und ihre Welt
bliebe heil.
Als
die Sonne untergegangen war, fuhr er weiter. Er fuhr von der großen Straße auf
die kleine und auf dem geschotterten Weg das lange Tal hinauf. Bis er anhielt
und ausstieg. Neben der Straße lief an neuen, noch hellen Masten in drei Meter
Höhe die Telefonleitung. Ihretwegen waren ein paar Bäume gefällt, ein paar Äste
gekappt worden. Aber andere Bäume standen nahe der Leitung.
Er
fand eine Kiefer mit leerem Geäst, hoch, schief, tot. Er schlang das
Arbeitsseil um den Baum und die Anhängerkupplung, schaltete den Vierradantrieb
ein und fuhr an. Der Motor heulte auf und erstarb. Er fuhr noch mal an, und
noch mal heulte der Motor auf und erstarb. Beim dritten Versuch drehten die
Räder durch. Er stieg aus, nahm aus dem Pannenwerkzeug den Klappspaten,
stocherte am Fuß des Baums im Erdreich und stieß auf Fels, in dessen Spalten
die Wurzeln sich krallten. Er versuchte, sie zu lockern, und grub, rüttelte,
stemmte. Sein Hemd, sein Pullover, seine Hose - alles war schweißnass. Wenn er
doch mehr sähe! Es wurde dunkel.
Er
setzte sich wieder ins Auto, fuhr an, bis das Seil straff spannte, ließ das
Auto zurückrollen und fuhr wieder an. Anfahren, zurückrollen, anfahren,
zurückrollen - Schweiß lief ihm in die Augen und Tränen der Wut auf den Baum,
der nicht fallen, und auf die Welt, die ihn und Kate nicht in Ruhe lassen
wollte. Er fuhr an, rollte zurück, fuhr an, rollte zurück. Hoffentlich hörten
Kate und Rita ihn nicht. Hoffentlich rief Kate nicht den Farmer an oder den
General Store. Er war noch nie so spät nach Hause gekommen. Hoffentlich rief
sie auch sonst niemanden an.
Ohne
dass der Baum es durch allmähliches Nachgeben angekündigt hätte, kippte er. Er
schlug auf die Leitung gleich neben einem Mast, und Baum und Mast neigten sich,
bis die Leitung riss. Dann krachten sie auf den Boden.
Er
stellte den Motor ab. Es war still. Er war erschöpft, ausgepumpt, leer. Aber
dann wuchs in ihm das Gefühl des Triumphs. Er hatte es geschafft. Er würde auch
alles andere schaffen. Was für eine Kraft in ihm steckte! Was für eine Kraft!
Er
stieg aus, löste das Seil, lud Seil und Spaten ein und fuhr nach Hause. Er sah
von weitem die hellen Fenster - sein Haus. Seine Frau und seine Tochter standen
vor dem Haus, wie stets, und wie stets flog Rita ihm in die Arme. Alles war
gut.
6
Kate
fragte ihn erst am nächsten Abend, warum Telefon und Internet nicht
funktionierten. Sie ließ sich morgens und am frühen Nachmittag durch nichts vom
Schreiben abhalten und kümmerte sich erst am späten Nachmittag um ihre E-Mails.
»Ich
sehe nach.« Er stand auf, machte sich an den Telefon- und Computerbuchsen und
-kabeln zu schaffen und fand nichts. »Ich kann morgen in die Stadt fahren und
den Techniker kommen lassen.«
»Dann
verliere ich wieder einen halben Tag - warte noch. Manchmal renkt sich die
Technik von selbst ein.«
Als
sich die Technik nach ein paar Tagen nicht eingerenkt hatte, drängte Kate: »Und
wenn du morgen fährst, dann frag auch, ob es nicht doch ein Netz gibt, das wir
hier kriegen können. Es geht einfach nicht ohne Handy.«
Sie
hatten sich zusammen gefreut, dass sie in ihrem Haus und auf ihrem Grundstück
keinen Handy-Empfang hatten. Dass sie nicht mehr jederzeit erreichbar und
verfügbar waren. Dass sie auch das andere Telefon zu bestimmten Zeiten nicht
abnahmen und keinen Anrufbeantworter hatten. Dass sie sich die Post nicht
bringen ließen, sondern holten. Und jetzt wollte Kate ein Handy?
Sie
lagen zusammen im Bett, und Kate machte das Licht aus. Er machte es an. »Willst
du wirklich, dass es wieder wird wie in New York?« Als sie nichts sagte, wusste
er nicht, ob sie seine Frage nicht verstanden hatte oder nicht beantworten
mochte. »Ich meine...«
»Sex
war in New York besser als hier. Wir waren
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