Schloss aus Glas
Kindern zu erkundigen, und ein oder zwei Mal im Monat trafen wir uns alle bei Lori.
»Es ist eigentlich gar kein schlechtes Leben«, sagte Mom, als sie schon zwei Monate obdachlos waren.
»Macht euch um uns bloß keine Sorgen«, fügte Dad hinzu. »Wir haben uns schon immer irgendwie durchgeschlagen.«
Mom sagte, sie würden sich auch schon ganz gut auskennen. Sie hatten die verschiedenen Suppenküchen abgeklappert, die Qualität getestet und eine Lieblingsauswahl getroffen. Sie wussten, welche Kirchengemeinden Sandwiches verteilten und wann. Sie hatten die Stadtbüchereien mit guten Toiletten ausgekundschaftet, wo man sich die Zähne putzen und rasieren und gründlich waschen konnte -»Wir waschen uns bis möglichst weit unten und bis möglichst weit oben, aber möglichst waschen wir uns nicht«, wie Mom sich ausdrückte. Sie fischten Zeitungen aus Abfallkörben und suchten sich kostenlose Kulturveranstaltungen heraus. Sie gingen zu Theaterstücken, Opern und Konzerten in Parks, hörten sich Streichquartette und Klaviervorträge in Lobbys von großen Bürohäusern an, besuchten Filmvorführungen und Ausstellungen. Es war Anfang des Sommers, als sie obdachlos wurden, und seitdem schliefen sie auf Parkbänken und in den Büschen an Parkwegen. Manchmal wurden sie von einem Polizisten geweckt, der sie wegschickte, aber dann suchten sie sich einfach einen anderen Schlafplatz. Tagsüber versteckten sie ihr Bettzeug irgendwo im Gebüsch.
»Ihr könnt doch nicht einfach so leben«, sagte ich.
»Warum denn nicht?«, sagte Mom. »Obdachlos sein ist ein Abenteuer.«
Als der Herbst kam und die Tage kürzer und das Wetter kühler wurden, hielten Mom und Dad sich immer öfter in den Büchereien auf. Dort war es warm und gemütlich, und manche hatten bis zum späten Abend geöffnet. Mom arbeitete sich durch Balzacs Werk. Dad hatte Interesse an Chaostheorie gefunden und las die Fachzeitschriften Los Alamos Science und Journal of Statistical Physics. Er sagte, es habe bereits geholfen, er würde jetzt besser Poolbillard spielen.
»Was wollt ihr im Winter machen?«, fragte ich Mom.
Sie lächelte. »Der Winter ist eine meiner liebsten Jahreszeiten«, sagte sie.
Einerseits wollte ich mich so gut ich konnte um sie kümmern, und andererseits wollte ich sie bloß los sein. Die Kälte kam früh in diesem Jahr, und jedes Mal, wenn ich die Wohnung der Psychologin verließ, blickte ich unwillkürlich in die Gesichter der Obdachlosen, an denen ich vorbeikam, und fragte mich, ob sich einer von ihnen als Mom oder Dad entpuppen würde. Ich gab Obdachlosen meistens etwas Kleingeld, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich damit mein schlechtes Gewissen wegen Mom und Dad beruhigen wollte, weil sie durch die Straßen streiften, während ich eine feste Arbeit hatte und ein warmes Zimmer, das auf mich wartete.
Einmal ging ich mit einer Kommilitonin den Broadway entlang und gab einem jungen Obdachlosen ein paar Münzen. »Das solltest du lieber nicht tun«, sagte sie.
»Wieso?«
»Weil sie das bloß ermuntert«, sagte sie. »Das sind alles Trickbetrüger.«
Was weißt du denn schon?, hätte ich am liebsten gefragt. Ich war drauf und dran, ihr zu erzählen, dass meine Eltern auch auf der Straße lebten, dass sie keine Ahnung hatte, wie es war, wenn man ganz unten angekommen war, nicht mehr wusste, wohin, und nichts zu essen hatte. Aber dann hätte ich ihr erklären müssen, wer ich wirklich war, und das lag mir fern. Also beließ ich es dabei und verabschiedete mich an der nächsten Straßenecke von ihr.
Ich wusste, dass ich mich für Mom und Dad hätte stark machen müssen. Als Kind war ich ganz schön angriffslustig gewesen, und wir hatten einander nie im Stich gelassen, aber damals hatten wir eigentlich auch keine andere Wahl. Die Wahrheit war, dass ich es leid war, mich mit Leuten anzulegen, die uns wegen unserer Lebensweise verspotteten. Ich hatte einfach keine Energie mehr, Mom und Dad vor aller Welt zu verteidigen.
Aus diesem Grund bekannte ich mich auch Professor Fuchs gegenüber nicht zu meinen Eltern. Sie war eine meiner Lieblingsdozentinnen, eine kleine, dunkle, leidenschaftliche Frau mit Ringen unter den Augen, die Politikwissenschaft lehrte. In einem ihrer Seminare stellte Professor Fuchs einmal die Frage, ob Obdachlosigkeit die Folge von Drogenmissbrauch und fehlgeleiteten Sozialleistungen sei, wie die Konservativen behaupteten, oder ob sie, wie die Liberalen meinten, daher rühre, dass Sozialleistungen gekürzt wurden
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