Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
Vom Netzwerk:
und es dem Staat nicht gelang, den Mittellosen berufliche Perspektiven zu eröffnen. Professor Fuchs rief mich auf.
    Ich zögerte. »Ich denke, manchmal trifft weder das eine noch das andere zu«, sagte ich.
    »Können Sie das näher erläutern?«
    »Ich denke, dass die Menschen vielleicht manchmal das Leben bekommen, das sie haben wollen.«
    »Meinen Sie, dass Obdachlose auf der Straße leben wollen?«, fragte Professor Fuchs. »Meinen Sie, sie wollen kein warmes Bett und kein Dach über dem Kopf?«
    »Das nicht«, sagte ich. Ich suchte nach Worten. »Sie wollen das schon. Aber wenn einige von ihnen bereit wären, hart zu arbeiten und Kompromisse einzugehen, dann hätten sie zwar immer noch kein ideales Leben, doch sie kämen über die Runden.«
    Professor Fuchs kam hinter ihrem Lesepult hervor. »Was wissen Sie denn über das Leben der Unterprivilegierten?«, fragte sie. Sie bebte förmlich vor Entrüstung. »Was wissen Sie denn von den Nöten und Hürden, mit denen die Unterschicht zu kämpfen hat?«
    Die anderen Studenten blickten mich an.
    »Da ist was dran«, sagte ich.
    Im Januar wurde es so kalt, dass im Hudson River Eisbrocken so groß wie Autos trieben. An solchen Winterabenden füllten sich die Obdachlosenunterkünfte ziemlich schnell. Mom und Dad konnten^diese Unterkünfte nicht ausstehen. Menschliche Jauchegruben nannte Dad sie, beschissene Wanzenlöcher. Mom und Dad schliefen lieber auf den Bänken in einer der Kirchen, die ihre Türen für Obdachlose öffneten, doch manchmal war jede Bank in jeder Kirche besetzt. Dann ging Dad doch ins Obdachlosenasyl, und Mom tauchte mit Tinkle bei Lori auf. In solchen Momenten zeigten sich Risse in ihrer heiteren Fassade, und sie fing an zu weinen und gestand Lori, dass das Leben auf der Straße manchmal hart war, richtig hart.
    Eine Weile überlegte ich, mein Studium am Barnard College hinzuschmeißen, um ihnen zu helfen. Es kam mir unerträglich egoistisch und schlicht falsch vor, dass ich mir den Luxus eines geisteswissenschaftlichen Studiums an einem teuren Privat-College gönnte, während Mom und Dad auf der Straße lebten. Aber Lori überzeugte mich davon, dass der Abbruch des Studiums eine hirnrissige Idee war. Es würde nichts bringen, sagte sie, und außerdem würde es Dad das Herz brechen. Er war ungeheuer stolz, dass eine seiner Töchter aufs College ging, noch dazu auf ein Elite-College, und jedes Mal, wenn er neue Leute kennen lernte, schaffte er es, ihnen die Information nach nur wenigen Minuten unterzujubeln.
    Mom und Dad, so meinte Brian, hatten noch andere Möglichkeiten. Sie könnten zurück nach West Virginia oder Phoenix gehen. Mom könnte arbeiten. Und sie war nicht mittellos.
    Sie hatte ihre Sammlung alten indianischen Schmucks. Sie hatte einen zweikarätigen Diamantring, den, den Brian und ich unter dem verrotteten Baumstamm in Welch gefunden hatten und den sie auch dann trug, wenn sie auf der Straße schlief. Sie hatte noch immer das Haus in Phoenix, und sie hatte das Stück Land in Texas, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte und das ihr einen regelmäßigen Scheck von der Ölfirma einbrachte.
    Brian hatte Recht. Mom hatte tatsächlich Alternativen, und ich traf mich mit ihr in einem Cafe, um mit ihr darüber zu sprechen. Als Erstes machte ich den Vorschlag, dass sie sich eine Bleibe suchte, vielleicht so ein Arrangement, wie ich es hatte: ein Zimmer in der schönen Wohnung von jemandem, für den sie dann die Kinder hütete oder sich um alte Familienangehörige kümmerte.
    »Ich hab mich mein Leben lang um andere gekümmert«, sagte Mom. »Jetzt bin ich mal dran.«
    »Aber du kümmerst dich doch gar nicht um dich.«
    »Können wir nicht über was anderes reden?«, fragte Mom. »Ich hab in letzter Zeit ein paar schöne Filme gesehen. Können wir nicht über die Filme reden?«
    Ich schlug Mom vor, sie solle ihren indianischen Schmuck verkaufen. Sie wollte nichts davon hören. Sie liebte den Schmuck über alles. Außerdem waren es Erbstücke und hatten für sie einen Erinnerungswert.
    Ich erwähnte das Stück Land in Texas.
    »Das Land gehört der Familie seit Generationen«, sagte Mom, »und es bleibt in der Familie. So ein Stück Land verkauft man nicht.«
    Ich fragte nach dem Haus in Phoenix.
    »Das ist meine Notreserve für schlechte Zeiten.«
    »Mom, die Zeiten sind hundsmiserabel.«
    »Es sind nicht die besten Zeiten, zugegeben«, sagte sie, »aber es könnte noch schlimmer kommen.« Sie nippte an ihrem Tee. »Es wird schon alles gut

Weitere Kostenlose Bücher