Schloss aus Glas
er viele Freunde dort. Dennoch dachte ich, es wäre langfristig in Brians Interesse, Welch den Rücken zu kehren, und ich stellte eine Liste mit Gründen zusammen, um ihm klar zu machen, warum er nach New York kommen sollte.
Ich rief ihn bei Grandpa an und unterbreitete ihm meine Argumente. Er brauchte natürlich einen Job, um seinen Anteil an der Miete und den Lebensmitteln zu bezahlen, sagte ich, aber Jobs gäbe es in New York wie Sand am Meer. Er könnte bei mir im Zimmer schlafen - der Platz reichte dicke für ein zweites Bett -, das Klo hätte Wasserspülung, und die Decke wäre dicht.
Als ich fertig war, schwieg Brian einen Augenblick. Dann sagte er: »Wann kann ich frühestens kommen?«
Genau wie ich setzte Brian sich gleich am Morgen nach Abschluss der elften Klasse in den Bus. Am Tag nach seiner Ankunft in New York fand er einen Job in einer Eisdiele in Brooklyn, ganz in der Nähe vom Phoenix. Er sagte, Brooklyn gefalle ihm besser als Manhattan oder die Bronx. Er machte es sich zur Gewohnheit, mich nach Feierabend in der Redaktion abzuholen, auch wenn er manchmal bis drei oder vier Uhr morgens warten musste, damit wir zusammen mit der U-Bahn in die South Bronx fahren konnten. Er sagte es zwar nie, aber ich glaube, er dachte sich, dass wir, genau wie früher als Kinder, gemeinsam eine größere Chance hatten, mit der Welt fertig zu werden.
Da ich jetzt den Job beim Phoenix hatte, sah ich keinen Sinn mehr darin, aufs College zu gehen. Ein Studium war teuer und sollte mir schließlich nur den nötigen Abschluss verschaffen, um Journalistin zu werden. Aber ich war bereits Journalistin. Und was das Lernen anging, so dachte ich, brauchte man keinen College-Abschluss, um irgendwann zu den Menschen zu gehören, die Bescheid wussten. Wenn man Augen und Ohren offen hielt, konnte man vieles ganz allein rauskriegen. Wenn ich zum Beispiel mitbekam, dass jemand Begriffe verwendete, mit denen ich nichts anfangen konnte - koscher, Tammany Hall, Haute Couture -, recherchierte ich sie später. Ich notierte mir auch jiddische Ausdrücke, die Mike Armstrong benutzte, wie beispielsweise kwetsch und schmatta , und schlug sie nach. Einmal interviewte ich jemanden aus einer Bürgerinitiative, und er bezeichnete ein bestimmtes Arbeitsbeschaffungsprogramm als Rückfall in die Fortschrittsära. Ich hatte keinen Schimmer, was es mit der Fortschrittsära auf sich hatte, und sobald ich wieder im Büro war, nahm ich das Lexikon zur Hand. Mike Armstrong sah das und wollte wissen, was ich nachschlug, und als ich es ihm erklärte, fragte er, ob ich schon mal daran gedacht hätte zu studieren.
»Warum sollte ich diesen Job aufgeben, um zu studieren?«, fragte ich. »Sie beschäftigen doch Leute mit abgeschlossenem Studium, und die machen die gleiche Arbeit wie ich.«
»Auch wenn Sie's vielleicht nicht glauben«, sagte er, »aber es gibt bess ?re Jobs da draußen als den, den Sie hier haben. Vielleicht bekommen Sie ja eines Tages einen davon. Aber nicht ohne College-Abschluss.« Mike versprach mir, wenn ich aufs College ginge, könnte ich jederzeit wieder beim Phoenix anfangen. Aber, so fügte er hinzu, er glaubte nicht, dass ich das dann noch wollte.
Loris Freunde empfahlen mir die Columbia University, es sei die beste Hochschule in New York. Da die Columbia damals nur Männer aufnahm, bewarb ich mich am Barnard College, das der Columbia angegliedert war. Mit staatlichen Zuschüssen und Darlehen konnte ich den Großteil der Studiengebühren abdecken, die ganz schön happig waren, und ich hatte mir auch von meinem Gehalt bei Phoenix ein bisschen was zusammengespart. Aber um den Rest zu finanzieren, schuftete ich ein ganzes Jahr lang in der Telefonzentrale einer Wall-Street-Firma.
Als ich mit dem Studium anfing, konnte ich meinen Mietanteil nicht mehr bezahlen, aber ich lernte eine Psychologin kennen, die mir ein Zimmer in ihrer Wohnung auf der Upper West Side anbot, wenn ich dafür ab und zu auf ihre beiden kleinen Söhne aufpasste. Ich nahm an und jobbte am Wochenende in einer Kunstgalerie. Meine Seminare legte ich allesamt auf zwei Tage, sodass ich Zeit hatte, bei der Uni-Zeitung, dem Barnard Bulletin , als Nachrichtenredakteurin anzufangen. Doch damit hörte ich auf, als mich eine der größten Zeitschriften der Stadt als Redaktionsassistentin für drei Tage in der Woche einstellte. Journalisten der Zeitschrift hatten Bücher veröffentlicht und über Kriege berichtet und Präsidenten interviewt. Ich war dafür zuständig, ihnen die
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