Schloss der Engel: Roman (German Edition)
für einen Moment die Augen und versuchte, Christophers Duft wahrzunehmen. Nichts! Vielleicht war ich zu weit weg.
Vorsichtig betrachtete ich den Schatten, als ob meine Nähe ihn vertreiben könnte. Stand er Wache vor meinem Zimmer und hatte vergessen, sich unsichtbar zu machen? Leise, aber nicht lautlos genug, drückte ich mich vom Türrahmen ab.
»Schon so früh unterwegs? Du scheinst eine echte Frühaufsteherin zu sein.« Es war Raffael.
Ich versuchte meine Enttäuschung zu unterdrücken, doch es gelang mir nicht. Mit meinen Gefühlen kämpfend, stand ich reglos da und brachte nur ein Nicken zustande.
Raffael kam auf mich zu und ließ seine Finger über mein Gesicht wandern, um die Träne aufzufangen, die ich vergeblich versucht hatte zurückzuhalten. Ich erschauderte – unfreiwillig. Viel zu sehr erinnerte er mich im Augenblick an Christopher.
Schließlich gelang es mir, ein Stück weit meine Fassung wiederzuerlangen. »Heimweh«, stammelte ich.
»Kann ich verstehen«, antwortete er.
Verlegen wandte ich mich ab. »Lass uns zur Mensa gehen. Ich bin hungrig.« Meine Stimme klang belegt und mitgenommen.
Raffael hakte nicht nach, und ich war froh darüber. Er zeigtesich von seiner besten Seite und es gelang ihm sogar, mich aufzumuntern.
Aufgrund der zahlreichen Hausaufgaben, meiner Zusatzstunden und des Tanzkurses blieb mir viel zu wenig Zeit für meine Suche nach der Engelswelt. Vor allem aber erschwerte Raffaels permanentes Auftauchen zu den ungünstigsten Gelegenheiten mein Vorhaben. Wahrscheinlich hatte ihn mein vorgegebener Heimwehanfall dazu ermuntert, mir beizustehen. Um ihm zu entkommen, schwänzte ich am Freitag mein Kunstprojekt und täuschte Kopfschmerzen vor. Den Arbeitsdienst, falls mich jemand erwischen sollte, nahm ich in Kauf.
Natürlich begann ich im Abstellraum unter der Treppe. Wie erwartet stapelten sich dort Eimer, Putzmittel und dergleichen. Ich schnappte mir einen Besenstil und klopfte die Kammer nach irgendwelchen verborgenen Hohlräumen ab. Zentimeter um Zentimeter überprüfte ich zuerst den Boden und danach die Wände. Nichts deutete auf eine dahinterliegende Treppe hin. Frustriert schleuderte ich den Besen in die Ecke.
War alles doch nur Einbildung gewesen? Folgen meines Schädeltraumas? Sollte ich aufgeben und versuchen, mein altes Leben weiterzuführen?
Mein Herz zog sich so sehr zusammen, dass es schmerzte. Nein! Christopher lebte nicht nur in meiner Fantasie. Aber warum zeigte er sich mir dann nicht? Die Totenwächterin hatte keine Probleme damit.
»Kannst du oder willst du nicht?« Ich führte wieder Selbstgespräche. Irgendwie musste ich ja meinem aufsteigenden Ärger Luft verschaffen. »Aber wenn du glaubst, dass du mich loswirst, indem du dich versteckst, hast du dich geschnitten.« Wenn, dann musste er schon den Mut aufbringen und mir ins Gesicht sagen, dass er mich nie wieder sehen wollte!
Marisa erwartete mich oben im Flur. Ich zuckte zusammen, als ich sie entdeckte.
»Du warst unterwegs? Ich dachte, du hast Kopfschmerzen?« Sie betrachtete mich skeptisch.
»Und ich dachte, ein Spaziergang könnte sie vertreiben.« Erstaunlich schnell kam mir die Lüge über die Lippen.
»Ach ja? Und warum glaubst du, mich anlügen zu müssen, wenn du etwas anderes vorhast als dein Kunstprojekt?«
»Ich hatte nichts anderes vor!«
»Ach nein?!«
»Doch! Aber das geht dich nichts an!« Marisa wich vor mir zurück. Ich hatte sie angeschrien, und das, nachdem wir uns eben erst wieder versöhnt hatten.
»Na, dann hab ich hier wohl nichts mehr verloren.«
Sie war schon bei der Treppe, als ich endlich zur Vernunft kam. »Marisa. Bitte! Ich hab’s nicht so gemeint. Es tut mir leid.«
Sie drehte sich zu mir um – und wartete.
»Ich ... ich hab Stress mit ... meinem Freund.«
»Deinem Freund?!« Marisa war mehr als überrascht. Klar, ich hatte nie einen erwähnt.
»Kenn ich ihn?«, fragte sie misstrauisch.
»Nein.«
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Offenbar glaubte sie mir nicht. »Aber ich werde ihn bestimmt kennenlernen, wenn ihr euch wieder vertragt.«
»Wohl kaum.«
»Zeigst du mir wenigstens ein Foto?«
Ich seufzte. Ein Foto! Wie gerne hätte ich selbst eins! »Nein. Es ist ein wenig kompliziert.«
Marisa wurde hellhörig und begann zu interpretieren: »Dann muss er berühmt sein.« – Und zu fantasieren. – »Wie romantisch, eure Liebe geheimzuhalten, damit du nicht von Paparazzi umlagert wirst.«
Genau. Romantisch! Marisas Weltbild würde einstürzen,
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