Schloss der Engel: Roman (German Edition)
herabstarrten. Er war nicht unter ihnen!
Mit einem tiefen Atemzug sog ich die Luft ein – deutlich nahm ich ihn wahr. Er musste in meiner Nähe sein! Dann dämmerte mir die Wahrheit und mit ihr kehrten auch all meine Gefühle zurück, die ich empfand, als er mich der Totenwächterin überlassen hatte. Ich krümmte mich vor Schmerz. Die unerwartete Erinnerung überstieg meine Kräfte. Er war hier – und doch unerreichbar!
Philippe, gefolgt von Emilia und Stefano, zwängte sich durch die Reihen. Besorgt kniete sich Philippe neben mir auf den Boden.
»Lynn! Bist du verletzt? Hast du Schmerzen?«
Trotz meiner quälenden Erinnerungen schüttelte ich den Kopf. Was meine äußere Hülle betraf, war ich unversehrt.
»Nein. Es ist alles in Ordnung«, log ich.
Philippe zog mich auf die Beine und legte mir einen Arm um die Taille – was ich dankbar annahm –, bevor ich noch einmal einen tiefen Atemzug wagte. Christophers Duft war noch immer präsent und doch trennte mich eine Welt von ihm.
In meinen Augen sammelten sich Tränen. Philippes Blick heftete sich auf mich. Meine Reaktion drängte ihn zum Handeln.
»Ich bringe dich heim – in Sicherheit«, flüsterte er mir beruhigend ins Ohr.
Souverän wie ein Bodyguard führte er mich durch die sich teilende Menschenmenge. Meine Freunde folgten uns. Niemand sprach. Erst auf der Rückfahrt wagte Emilia ein paar aufmunternde Worte.
Bei mir zu Hause angekommen, sorgte Philippe für Ruhe, schickte die anderen weg und kümmerte sich um meine Schürfwunden.
»Ich bleibe bei dir, bis deine Eltern zurückkommen.«
»Das ist wirklich lieb von dir, Philippe. Aber inzwischen geht’s mir schon wieder besser.«
»Keine Chance, ich warte!«
Ich seufzte, da ich allein sein wollte, und änderte meine Taktik.
»Ich möchte mich ein bisschen hinlegen – und dabei würdest du nur stören. Oder willst du mir etwa zusehen, wie ich in meinem Bett schlafe?«
Philippe errötete. Er kannte mich gut genug, um den Wink zu verstehen.
»Ich geh ja schon. Aber du musst mir versprechen, anzurufen, wenn du wieder wach bist.« Kurz vor der Tür kramte Philippeein kleines Päckchen aus seiner Hosentasche. »Übrigens, ich hab da noch was für dich – zu Ostern und als Ersatz für das Armband.«
Ein wenig verlegen nahm ich das Geschenk entgegen und öffnete die schmale Schachtel. Ein zierliches Madonnenbild an einer silbernen Kette kam zum Vorschein.
»Es ist zwar nicht das Medaillon eines Engelpapstes, doch dafür ist die Jungfrau Maria drauf.«
»Engelpapst?«
Philippe schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast wohl noch nicht viel von der Gegend mitbekommen, in der du lebst. Der Anhänger an der Kette, die ich dir zum Abschied geschenkt hab, soll von Pietro del Murrone sein. Der sagt dir hoffentlich was.«
»Klar.« Wie jeder hier kannte ich die nahezu unerreichbare Festung in der steilen Felswand über Sulmona, in die sich der Einsiedler vor achthundert Jahren zurückgezogen hatte.
»Er war mal Papst – mehr oder weniger freiwillig – und konnte angeblich heilen. Deshalb hielten die Leute ihn für einen Engel.«
Ich atmete erleichtert auf – das war schon lange her. Ein Engel genügte mir im Augenblick.
»Danke, Philippe. Für alles. Jetzt hast du mich schon zweimal gerettet.«
»Schon gut. Ich spiele gern den Lebensretter. Außerdem finde ich die Madonna hübscher als den Coelestin-Engel.«
Coelestin?! Wie der Schulleiter? Meine Anspannung stieg. Er war wirklich ein Engel – wie Christopher. Kaum hatte ich die Tür hinter Philippe geschlossen, stürmte eine Bilderflut auf mich ein, die – so absurd sie auch war – nur aus meinen Erinnerungen stammen konnte.
Ich sah Coelestin und die Engelsschule. Susan, Paul, Markus und all die anderen. Aron, der sich mit der Totenwächterin unterhielt. Und Christopher. Wie er in der Kapelle vor mir standund versuchte, mir mit seiner Engelsgestalt Angst einzujagen. Es hatte nicht funktioniert, und er hatte akzeptiert, dass ich ihn liebte, bis er herausfand, dass ich gar kein Engel war. Er gab mich auf und überließ mich der Totenwächterin.
Meine Knie gaben nach. Unzählige Male durchlebte ich den Abschiedsschmerz und beschwor Christopher, mich nicht zu verlassen, bevor ich erneut in der Hölle der Wächterin versank.
Schließlich erlöste mich mein Verstand: Ich hatte Christopher wahrgenommen! Er war in meiner Nähe gewesen. Er hatte mich beschützt! Auch wenn er mich – laut meinem Gedächtnis – aus seiner Welt verbannt hatte, so
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