Schloss der Engel: Roman (German Edition)
war er doch bei mir gewesen. Als mein Schutzengel! Und das nicht nur heute.
Ich schöpfte Hoffnung. Wenn Christopher tatsächlich mein Schutzengel war – und das, was ich glaubte als meine Erinnerungen wiedererkannt zu haben, kein Fantasiegespinst –, dann müsste er auch jetzt in meiner Nähe sein.
Bis zum letzten Rest leerte ich meine Lungen – mein nächster Atemzug sollte so intensiv wie möglich sein. Der Gedanke an seinen Duft weckte vergessene Gefühle in mir, bis die Realität mich aus meinen Träumen riss: nicht die geringste Spur von Sommergewitter.
»Verdammt, wo steckst du? Ich weiß, dass du da bist.« Langsam wurde ich unruhig – und führte weitere Selbstgespräche. Genau genommen waren es ja keine.
Wie ein jagendes Raubtier lief ich durch das Haus und schnupperte in jeden Winkel. Selbst im Garten suchte ich nach seiner Fährte. Fehlanzeige! Schließlich gab ich auf. Zitternd stand ich auf der Terrasse und ließ meinen Tränen freien Lauf.
Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Ein nach Sommerregen duftendes Parfum in der Menschenmenge gerochen und es auf mein Traumbild projiziert?
Waren meine wiederaufgetauchten Erinnerungen Wirklichkeit oder doch nur Illusion?
Wurde ich langsam verrückt?
Wie auch immer. Ich musste wissen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Geistererscheinung im Wald, meinen Träumen und den merkwürdigen Erinnerungen gab. Also wischte ich mir die Tränen aus den Augen und sortierte meine Gedanken: Ich war überzeugt, einem Engel begegnet zu sein – und nicht nur einem! Ich glaubte, für eine gewisse Zeit in ihrer Welt gewesen zu sein. Dort hatte ich gelebt, gegessen, geschlafen, gelernt, neue Freundschaften geschlossen und mich unsterblich in einen von ihnen verliebt: in Christopher!
Mein Herz zog sich zusammen. Ich liebte ihn. Und ich wusste, dass nichts auf dieser Welt das je ändern würde. Aber was war mit ihm? Brachte er mir dieselbe Zuneigung entgegen? Liebte Christopher mich?
Für einen beängstigend langen Augenblick setzte mein Herz aus, bevor es mit einem dumpfen Schlag weiterpochte. Und wenn nicht? Was, wenn er anders empfand? Er hatte mich der Totenwächterin übergeben, nachdem sie entdeckt hatte, dass ich kein Engel war – als er festgestellt hatte, dass ich ihm nicht ebenbürtig war. Diese Erkenntnis bohrte sich in mein Inneres wie der Dolch, der die Marienstatue peinigte – ich genügte ihm nicht!
Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt hatte und sich mir eine weitere Frage aufdrängte: Warum hatte er mich dann beschützt? Es konnte unmöglich irgendein Parfum gewesen sein, das ich auf der Piazza gerochen hatte. Mit dem Duft, mit seinem Duft, war meine – wie auch immer geartete – Erinnerung zurückgekehrt, und ich sträubte mich zu glauben, dass es Zufall war.
Christopher hatte mich vor der aufgebrachten Menschenmenge beschützt und sie daran gehindert, mich niederzutrampeln.
Ein beängstigendes Gefühl breitete sich in mir aus, als mirklar wurde, wie nah ich dem Tod gewesen war. Auf der Terrasse war es plötzlich eisig kalt, und ich beschloss, ins Haus zu gehen, um mich aufzuwärmen. Noch einmal versuchte ich, seinen Duft zu erschnuppern – erfolglos.
War es mir nur möglich, ihn wahrzunehmen, wenn ich mich in Gefahr befand? In Lebensgefahr?
Ich verdrängte den Gedanken, doch er stahl sich zurück. Hatte Christopher die Menge aufgehalten? War er mir deshalb nähergekommen als sonst? War das die Lösung?
Ganz von selbst suchte ich nach Möglichkeiten, die ihn dazu bewegen konnten, mich aus nächster Nähe zu beschützen. Drachenfliegen wie Stefano – dazu war ich, wie ich nach meinem Kurs im letzten Sommer wusste, zu feige. Eher würde ich eine waghalsige Klettertour in den Bergen unternehmen. Vielleicht konnte ich vor ein Auto oder einen Bus laufen oder mich mit dem Fahrrad auf die Straße wagen. Bei der italienischen Fahrweise wäre es nicht allzu schwierig, sich in Gefahr zu bringen.
Eine Gänsehaut überzog mich, als mir klar wurde, worüber ich gerade nachdachte. Ich spielte mit meinem Leben! War ich noch zu retten? Dachte ich ernsthaft darüber nach, mich in den Tod zu stürzen?
Eine Träne lief über mein Gesicht. Ich liebte Christopher und wünschte mir nichts sehnlicher, als bei ihm zu sein, aber ich liebte auch meine Eltern und meine Freunde. Ich würde sie für immer verlieren. Wollte ich das? War ich dazu wirklich bereit? Hatte Christopher mich gerettet, weil er wusste, dass der Abschied für mich zu früh gekommen
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