Schloss der Engel: Roman (German Edition)
Schloss geflüchtet bist, ahnte ich, dass etwas passiert war. Ich versuchte, Christopher zum Bleiben zu überreden. Natürlich hörte er nicht auf mich. Im Gegenzug nahm er mir das Versprechen ab, dich aufzuhalten.« Aron schwieg und starrte in die Ferne. Mit Sicherheit dachte er an unsere letzte Begegnung.
»Glaub mir, ich wollte dich nicht zu ihm lassen. Du wirktest so ... so verletzlich, doch in deinen Augen lag eine Gewissheit ...« Aron brach ab und zuckte die Schultern. »Lynn, es ist für Christopher nicht einfach, ein Gefühl wie Freundschaft zu akzeptieren. Dass er jemals mehr empfinden könnte, hielt nicht nur ich für unmöglich. Ich hoffe, du enttäuschst ihn nicht.«
Arons heitere Gelassenheit kehrte zurück, doch seine letzten Worte hatten ihr Ziel nicht verfehlt, und ich wäre beinahe aufgesprungen, um ihn zu ohrfeigen.
Für was hielt er mich? Glaubte er, dass ich meine Freunde so oft wechselte wie er seine Unterhosen? Ich schluckte meine zynische Bemerkung, dass er nicht von sich auf andere schließen sollte, hinunter und folgte ihm schweigend zu einem der Klassenzimmer. Schließlich hatte ich keinen Grund, mich vor ihm zu rechtfertigen.
Zwei Stunden lang erklärte er mir die Theorie des Fliegens, erläuterte den Nutzen von Aufwinden und die Gefahren derFallwinde. Am Ende war mein Ärger verraucht und mir schwirrte der Kopf vor lauter Fakten, aber ich hatte ungefähr begriffen, wie Engel flogen.
Nach der anstrengenden Theoriestunde genoss ich die wärmenden Sonnenstrahlen. Während wir auf den See zusteuerten, hielt ich nach Christopher Ausschau. Endlich entdeckte ich ihn, unten, am Steg vor dem Gelben Haus. Seine Augen leuchteten, als er mich sah – was mir natürlich sofort weiche Knie bescherte. Erst Markus’ Jubelschrei lenkte meine Aufmerksamkeit auf das umliegende Geschehen.
Eine riesige Plattform, erbaut aus aneinandergebundenen Flößen, trieb in der Mitte des Sees. Zwei schmale, im Wind hin und her schaukelnde Röhren, verziert mit roten, gold- und silberfarbenen Ranken, ragten nebeneinander in die Höhe. Oben erweiterten sie sich zu breiten, tulpenförmigen Kelchen, an deren Rändern sechs doldenförmige Gebilde herabhingen.
Meine Beine drohten nun doch nachzugeben, als ich die anmutigen Gestalten entdeckte, die in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den See flitzten: Engel! Aber Christophers Arm hatte sich bereits um meine Taille gelegt und gab mir Halt. Ich schmiegte mich dankbar an ihn, um den Schock zu verkraften, dass meine Mitschüler Engel waren, bis Arons tadelnder Blick mich wieder zur Vernunft brachte.
»Steigt ein! Chris wird euch zur Plattform rudern.«
Noch während er Markus und mich aufforderte, im Boot Platz zu nehmen, verwandelte sich Aron in einen Engel. Markus entfuhr ein beeindrucktes »Wow!«, während ich Aron überrascht musterte.
Auch er war bemerkenswert, allerdings unterschied sich seine Erscheinung deutlich von Christophers Engelsgestalt: Arons Körper blieb unverändert, und das Licht seiner Flügel besaß bei weitem nicht die Vielfalt von Christophers gigantischen Schwingen – sie schimmerten nur weiß, wie Schnee. Der größteUnterschied jedoch lag in seiner Ausstrahlung. Wirkte Christopher als Engel mächtig und ehrfurchtgebietend, so strahlten Arons Züge weich, beinahe fürsorglich. Eine beruhigende Wärme ging von ihm aus, als wäre er von einem schützenden Mantel umgeben.
Aron schien die Fragen, die mir durch den Kopf schossen, zu erahnen. »Später, Lynn. Nach dem Spiel werde ich euch alles erklären. Und nun genießt das Match und lernt.«
Auf der Plattform, die einen fantastischen Blick über den See bot, war die ganze Schule versammelt. Die Bohlen gaben unter meinem Gewicht ein wenig nach, doch ich schaffte es, aus dem Boot zu klettern und die für uns reservierte Holzbank zu erreichen, ohne ins Wasser zu fallen.
Christopher blieb vor uns stehen und begann zu erklären. »Was ihr gleich sehen werdet, ist eines der ältesten und beliebtesten Freizeitspiele unter Engeln. Es wird schon seit Ewigkeiten gespielt und wurde ursprünglich nicht zum Vergnügen, sondern zur Ertüchtigung erfunden – eigentlich dient es auch heute noch dazu. Aber die wenigsten sehen das so.«
Es gab zwei Mannschaften mit je sechs Spielern und einem Kapitän, die abwechselnd spielten. Ein Ball pro Runde mit sechs Scheiben mussten eingefangen und in die kugeligen Auswüchse am Ende des Kelchs gelegt werden – natürlich wollte die gegnerische Mannschaft das
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