Schloss der Engel: Roman (German Edition)
schlief auf der Stelle ein.
Mein Kopf schmerzte, als der Umriss einer Frau im Dämmerlicht vor mir auftauchte. Sie streckte ihre Hände nach mir aus und rief – nein, sang – mich zu sich. Leichte, glasklare Sirenentöne zogen mich zu ihr. Sie waren so verlockend, dass ich ihnen bereitwillig folgte. Doch bevor ich sie erreichte, hielt eine andere, eine männliche Gestalt mich zurück: Es war wie in dem Albtraum, den ich vor Wochen in einer anderen Welt geträumt hatte. Erneut stand ich zwischen zwei Wesen, die händeringend um mich eiferten.
Ich versuchte aus dem Traum zu erwachen oder zumindest ihn in andere Bahnen zu lenken – so wie ich es meistens tat bei gruseligen Träumen –, doch es gelang mir nicht. Klauenbewehrte Pranken packten mich, bohrten sich in mein Fleisch und stritten um mich. Ich wimmerte vor Angst, als mein Körper auseinanderzureißen drohte. Sie erstickten meine Stimme und verwoben mich in ihre wehenden Gewänder, bevor ich schließlich im Gewirr ihres endlosen Kampfes versank.
Hände schlugen hart auf mein Gesicht. Ich fühlte den Schmerz – er war real! Völlig außer mir öffnete ich die Augen und spürte erneut, wie Amiras Finger auf meine Wange klatschten.
»Wow!«, rief Paul, »das war ja gleich ein Volltreffer! Nicht so ein langweiliger Traum wie Ins Leere treten oder Von der Treppe stürzen .«
»Lynn!« Amira schüttelte unsanft meine Schulter. »Bist du wach?«
Ich nickte schlaftrunken.
»Ganz wach, meine ich.« Noch einmal rüttelte sie mich durch.
»Ja, das bin ich.« Mühsam richtete ich mich auf.
»Gut. Paul, dann kannst du jetzt an die Analyse gehen, und du, Lynn, ruhst dich für den Rest der Stunde aus. Aber schlaf nicht wieder ein!«, mahnte Amira.
Ich blieb sitzen und bemühte mich, meine Augen offen zu halten, was mir nur gelang, weil Paul mich in den Arm zwickte, sobald sie zufielen.
Immer noch benebelt, schwankte ich später mit Markus, der auch unter den Nachwirkungen zu leiden hatte, zu Geschichte. Herr Alto beäugte uns argwöhnisch.
»Warum wird Geschichte immer nach Schlafwächter unterrichtet?«, grummelte er vor sich hin. »Die Hälfte des Unterrichts – mindestens – werdet ihr nichts mitbekommen. Verhaltet euch still und stört nicht.« Er wies uns zwei Plätze in der hinteren Tischreihe zu, und ich war dankbar, mich setzen zu können.
Die erste Stunde verstrich tatsächlich, ohne dass ich das Geringste mitbekam. Mein Verstand lichtete sich nur langsam. Obwohl ich versuchte, Herrn Altos Unterricht zu folgen, umgab mich noch immer dieser zähe Nebel, aus dem die Figuren meines Traums aufstiegen.
»Ist das immer so?«, flüsterte ich Markus in einer klaren Minute zu.
»Ich glaub schon. Wahrscheinlich schickt man uns nur in Geschichte, damit wir aufgeräumt sind.«
Ich starrte erneut in den Nebel vor mir. Bestimmt hatte er recht. Ein Drittel der Klasse setzte sich aus den sogenannten Opfern des Schlafwächterunterrichts zusammen.
In den letzten Minuten konnte ich dem Unterricht endlich ein wenig folgen. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob meine Augen mir bereits die Wirklichkeit zeigten. Herr Alto projizierte Bilder barbarischer Schlachtszenen an die Wand, deren Kämpfer aus grausamen Albträumen entsprungen schienen, und fütterte uns mit Daten und Fakten, die angeblich zu den Illustrationen passen sollten. Weder Markus noch ich konnten glauben, dass die offensichtlich übertriebenen Darstellungen mit dermaßen genauen Zahlen belegt waren.
Christopher rümpfte die Nase, als er mir in der Mittagspause einen Kuss auf die Wange drückte. Selbst sein Geruch konnte den süßlichen Geschmack des Tees, den ich immer noch auf der Zunge hatte, nicht überdecken.
»Du hattest Schlafwächter?!«
»Ja! Das absonderliche Gebräu steckt mir immer noch in den Knochen.«
»Iss etwas, dann wird es dir besser gehen. Hattest du wenigstens einen schönen Traum?« Seine grünen Augen leuchteten schalkhaft.
»Wenn du Paul danach fragen würdest, mit Sicherheit. Er war ganz begeistert.«
»Und du?«
»Für mich kam er eher einem Horrortrip gleich«, erwiderte ich grimmig.
»Das tut mir leid.«
Liebevoll strich Christopher eine Strähne aus meinem Gesicht. Seine Berührung ließ elektrisierende Schauder durch meinen Körper laufen und weckte endlich meine schlafenden Sinne.
»Das nächste Mal werde ich von dir träumen«, versicherte ich ihm und zauberte damit ein unwiderstehliches Lächeln auf seine Lippen.
Bei Gefahrenkunde hatte ich etwas Ähnliches
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