Schloss der Engel: Roman (German Edition)
meinen Flüchen. Vielleicht wäre ich in der Hölle besser aufgehoben als unter Engeln!
Paul stupste mich mit dem Ellbogen.
»Es ist Zeit für den praktischen Teil. Hilfst du mir, den Tisch und die Stühle beiseitezuschieben?«
»Praktischer Teil?«, krächzte ich.
»Ja, der eigentliche Höhepunkt der Stunde. Wobei ein leibhaftiger Besuch in der Totengruft wohl kaum zu überbieten ist.«
Mit weichen Knien setzte ich mich an eine der Linien, die Aron um ein weiß schimmerndes Prisma zog, das er in der Mitte des Raumes platziert hatte. Mit einer leuchtenden Feuerkugel, die er mit einer Armbrust abschoss, erweckte er das Gebilde zum Leben.
Sich windender schwarzer Rauch quoll aus der Spitze des Prismas, drehte sich mit hoher Geschwindigkeit um eine imaginäre Achse und manifestierte sich als menschenähnliches Wesen: die Totenwächterin! Ihr Anblick fuhr mir durch Mark und Bein. Die Kälte der Totengruft breitete sich in meinem Inneren aus. Um ihrem Anblick zu entgehen, schlug ich die Hände vors Gesicht, doch ihre unverkennbare Stimme zwang mich, sie anzusehen.
»Welch übler Trick von dir, Aron, wenngleich ich schon befürchtet habe, dass du mir keinen Frieden lassen würdest.« Gespenstisch wirbelte sie herum und starrte mich an. »Und wen haben wir denn da? Lynn? Tatsächlich, du bist es!«
Ich biss mir auf die Zunge, um einen Aufschrei zu unterdrücken.
»Schade, dass ich von dir abgelenkt wurde. Du bist ein äußerst interessantes Objekt.«
Ihre Finger griffen gierig nach mir. Ich rutschte entsetzt weg von ihren beharrlichen Händen, die offensichtlich nicht über die Linien fassen konnten.
»Neulich hattest du noch keine Angst, als meine Hände dich berührten. Warum weichst du jetzt vor mir zurück? Komm, sei mutig, ich tu dir nichts.« Sie klang wie die böse Stiefmutter Schneewittchens, als sie ihr den vergifteten Apfel schenkte.
Ich wusste, ich war der Hase vor der lauernden Schlange und trotzdem konnte ich ihrer Anziehungskraft nicht widerstehen. Vorsichtig näherte ich mich ihren ausgestreckten Armen. Sie versprachen Trost und Wärme, eine Wärme, die mich anlockte.
»Halt! Keinen Schritt weiter!«
Arons drohende Stimme schallte durch den Raum. Seine angelegte Armbrust zielte auf den Mittelpunkt des Sterns, auf die Stelle, an der sich das Prisma befand. Gebannt verfolgten meine Mitschüler das Geschehen.
»Ach, Aron. Zuerst rufst du mich, und dann kann es dir nicht schnell genug gehen, mich wieder loszuwerden. Ein klein wenig mehr Aufmerksamkeit hätte ich schon von dir erwartet«, gurrte die Totenwächterin.
Arons Miene verfinsterte sich – er schien ihre Tricks zu kennen. »Lynn, geh zurück«, befahl er mir.
Ich ignorierte seine Anweisung. Im Gegenteil, unaufhaltsam näherte ich mich der jungen Frau, die mich mit ihren großen Augen gefangenhielt.
»Lynn!«
Arons Warnschrei sickerte durch mein verschleiertes Bewusstsein, aber ich verringerte mein Tempo nur ein wenig – zu verlockend erschien mir die Gestalt.
Zwei Hände schubsten mich grob nach hinten, und ich taumelte zu Boden. Paul stand heftig atmend zwischen mir und der Totenwächterin. Der Blickkontakt zu ihr brach ab und mit ihm der Bann, der mich gefangengehalten hatte. Ich wich entsetzt zurück – erst jetzt wurde mir bewusst, wozu ich bereit gewesen war.
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du zu mir zurückkehrst, Lynn. Und ich glaube, ich muss nicht mehr lange auf dich warten.«
Mit einem gellenden Lachen wirbelte sie herum und verschwand im aufwallenden Rauch, auf demselben Weg, wie sie erschienen war. Ich lag noch immer am Boden und fixierte zitternd den Punkt, an dem die Wächterin ihre Finger nach mir ausgestreckt hatte.
»Lynn, Lynn?«
Pauls besorgte Stimme erreichte mich. Ich starrte weiter vor mich hin.
»Kannst du aufstehen?«
Er bot mir helfend seine Hand an, weshalb ich entsetzt zusammenzuckte – erinnerte die Geste doch allzu sehr an die der Totenwächterin.
»Lynn, ich bin es, Paul!«
Ohne auf mein Zurückweichen einzugehen, packte er meinen Arm und zog mich auf die Beine. Leichte Schwindelgefühle zwangen mich dazu, mich an ihm festzuklammern.
»Bring sie auf ihr Zimmer, und bleib bei ihr, bis ich nachkomme«, befahl Aron.
Er ließ nicht lange auf sich warten. Mit einer Tasse Tee auf einem Tablett – wie ich es nicht anders erwartet hatte – betrat Aron meine Kammer.
»Danke, Paul, du kannst jetzt gehen. Ich kümmere mich um sie.«
Aron zog die Tür zu, nachdem Paul den Raum verlassen hatte.
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