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Schloß Gripsholm

Schloß Gripsholm

Titel: Schloß Gripsholm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Tucholsky
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der Hand.
    Das Gesicht der Frau war gerötet, ihr Lebensmotor lief
    auf Touren; sie lebte doppelt, wenn sie in solcher Erregung
    war. „Alle da — ?“ Sie sah über die Mädchen hin, mit jenem
    Blick, von dem jede glaubte, er hätte sie, grade sie gemeint.
    Hart: „Lisa Wedigen hat Essen gestohlen!“ — „Ich …“, was
    die Kleine sagen wollte, erstickte in Geschluchz. „Lisa We-
    digen stiehlt. Sie hat von unserm Essen gestohlen,“ sagte
    Frau Adriani mit Nachdruck, „gestohlen, und sie hat es
    in ihrem Schrank versteckt. Der Schrank war natürlich in
    einer scheußlichen Unordnung, wie immer bei Dieben; die
    Wäsche vom Essen beschmutzt, die Schranktür war offen.
    Wer nicht hören will, muß fühlen. Ihr wißt, wie ich es
    euch gleich am Anfang gesagt habe: wenn hier eine was
    falsch macht, dann büßen alle. Das ist Gerechtigkeit. Ich
    werde euch …! Also:
    Lisa hat heute abend Essenentzug. Sie darf die näch-
    sten acht Tage nicht mit uns spazierengehen, sondern
    bleibt zu Hause auf dem Zimmer. Morgen bekommt sie
    nur das halbe Essen. Das Baden fällt heute aus. Ihr macht
    alle Schreibübungen. Lisa schreibt besonders vier Kapitel
    aus der Bibel ab. Ihr seid eine ganz verlotterte Bande!
    Marsch — auf die Zimmer!“
    Schweigend und beklommen tropfte die Schar aus
    den beiden Türen; manche sahen sich bedeutungsvoll an,
    die Abgehärteteren schlenkerten mit den Armen und ta-
    ten unbekümmert-trotzig; zwei weinten. Lisa Wedigen
    schluchzte, sie sah niemand an und wurde von niemand
    angesehn. Das Kind blickte auf —
    Der große Abreiß-Kalender an der Wand zeigte eine 27,
    eine schwarze 27. Als sich das Kind mit den andern durch
    die Tür schob, blätterte der Zugwind im Kalender … so
    viele Blätter waren das, so viele Blätter. Und wenn dieser
    Kalender verbraucht war, dann hängte Frau Adriani einen
    neuen auf. Der Blick des Kindes fiel auf das Bildnis Gustav
    Adolfs, das im Korridor hing. Der hatte es gut. Er war hier,
    und er war doch nicht hier. Dem taten sie nichts. Merk-
    würdig, daß die Menschen den Sachen nichts tun. Das
    Kind dachte: Noch einmal so, und ich laufe fort, ich laufe
    aus dem Haus …
    In den Stuben herrschte eine stille Geschäftigkeit. Die
    Badeanzüge und die Handtücher wurden fortgelegt, zit-
    ternde Hände rissen Schubladen auf und kramten hastig
    darin umher, ein Flüsterwort unterbrach diese Geräusche.
    Unten im Eß-Saal stand die Adriani, allein.
    Ihr Atem ging rasch, sie hatte sich, anfangs kalt, in
    eine Wut hineingesteigert — wie sie meinte: zu pädagogi-
    schen Zwecken, und jetzt war sie wütend, weil sie wirklich
    wütend war. Ihr beißender Ärger besänftigte sich erst, als
    sie an die Vorstellung dachte, in der sie soeben aufgetre-
    ten war. Sie hatte so ein aufmerksames Publikum gehabt …
    alles kam darauf an, ein Publikum zu haben. Sie sah sich
    um. Hier war alles, bis zum Bewurf an der Mauer, dem
    Kitt in den Ritzen der Fensterscheiben, dem Linoleum-
    belag und den Türangeln — alles war gezählt, kontrolliert,
    aufgeschrieben und beaufsichtigt. Hier gab es nichts, das
    nicht ihrer Herrschaft unterstand. Sie fühlte: wenn sie den
    brennenden Herd scharf anblickte — er würde leiser bren-
    nen. Hier war ihr Reich. Deshalb ging auch Frau Adriani
    mit den Kindern nicht gern aus; sie vergällte ihnen die
    Spaziergänge, wo sie nur konnte, denn die Natur stand
    nicht stramm vor ihr. Ihr Wille tobte durch das geräumige
    Landhaus, das sie längst nicht mehr als gewöhnliches Haus
    ansah — es war ein souveränes Reich, eine kleine Welt
    für sich. Ihre Welt. Sie knetete die Kinder. Sie formte täg-
    lich an vierzig Kindern, den Dienstboten und ihren Nich-
    ten — der Mann zählte nicht; mit so vielen Figuren spielte
    sie ein lebendiges, ein schmerzvolles, ein lustvolles Spiel.
    Und setzte immer die andern matt. Und siegte immer. Das
    Geheimnis ihres Erfolges war keines; sie glaubte an diesen
    Sieg, konnte arbeiten wie ein Bauernpferd und sparte ihre
    Gefühle für sich selbst.
    Sie kam sich sehr einmalig vor, die Frau Adriani. Und
    hatte doch viele Geschwister.
    3
    Es war ein bunter Sommertag — und wir waren sehr froh.
    Morgens hatten sich die Wolken rasch verzogen; nun legte
    sich der Wind, und große, weiße Wattebäusche leuchteten
    hoch am blauen Himmel, sie ließen die gute Hälfte un-
    bedeckt und dunkelblau — und da stand die Sonne und
    freute sich.
    „Wir gehn heute auch nicht in die Heija“, sagte Karlchen,
    der merkwürdigerweise

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