Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
nicht kennen, um das zu wissen.« Er zeigte
über die Schulter. »Dort drüben, auf dem Sportplatz, habe ich ihn ab und zu mit
einer Klasse gesehen. Wenn man so viel mit Menschen zu tun hat wie ich, bekommt
man einen Blick dafür, auf welche Weise ein Erwachsener junge Mädchen anlangt.«
»Du meinst, er hat sich schon mal an einer vergriffen.«
»Das hast du gesagt. Ich sage bloß, dass er gern angefasst hat, wo
es was anzufassen gab. Immer auf der Suche nach Körperkontakt.«
»Bei Minderjährigen.«
Fred überlegte. »Bei älteren Minderjährigen.«
»Das passt ins Bild.« Ich dachte an den jungen Fikret. Der hatte auch
etwas von Grapschereien erzählt. Noch so ein paar Bemerkungen, und ich würde froh
sein, dass es Schallmo erwischt hatte.
»Was passt schon ins Bild?«, murmelte der Imbissbesitzer.
»Riecht übrigens ganz schön süßlich, dein Tabak.«
Er schwieg. Das kleine Kreuz an seinem Ohr blinkte in der Sonne.
»Wann machst du deine Bude morgens auf?«, wollte ich wissen.
»Um neun.«
»So früh?«
Achselzucken. »Noch früher wäre besser. Der Bedarf ist da. Aber irgendwann
braucht der Mensch ja seine Ruhe. Vor zehn Uhr abends endet mein Tag nie.«
»Und im Winter?«
»Gibt’s Glühwein.«
»Nein, ich meine, stehen die Leute bei null Grad auch in Scharen vorm
Imbiss rum?«
»Stehen halt kürzer«, sagte er und nahm einen tiefen Zug.
Ich grinste. Wahrscheinlich brauchte man Freds Bärenruhe, um in diesem
Metier erfolgreich zu sein. Jemand wie ich, mit meiner Ungeduld und meinen Vorurteilen,
könnte den Schlossblick nicht eine Woche lang führen. Der Krach wäre vorprogrammiert:
mit Lieferanten, renitenten Kunden und sämtlichen Ämtern der Stadt.
»Apropos«, sagte ich. »Warum heißt dein Imbiss eigentlich Schlossblick?«
»Wieso?« Fred hob eine Braue. »Wie soll er denn sonst heißen?«
»Wo ist der Blick auf welches Schloss?«
»Was ist denn das für eine scheiß Frage?« Die halbgerauchte Kippe wurde
weggeschleudert und landete in einer Pfütze. »Gibt es neuerdings ein Verbot, einen
Laden so zu nennen, nur weil gerade kein verdammtes Neuschwanstein um die Ecke linst?«
»Nein«, entgegnete ich überrascht. »Ich habe mich nur gefragt …«
»Falls du es nicht weißt: Drüben in Rohrbach gibt es ein Schloss«,
fauchte Fred. Von wegen Bärenruhe! Jetzt fuhr er die Grizzlytatzen aus. »Ist zwar
nur ein Schlösschen, aber wenn du dir ein paar Häuserzeilen wegdenkst, kannst du
es sehen. Und komm mir bloß nicht mit dem Sandsteinkadaver, der sich Heidelberger
Schloss nennt! Das kann mir gestohlen bleiben, mit all seinen Gaffern und Touristen.
Von meinen Kunden war noch keiner dort oben und wird auch keiner je hinstiefeln.
Ich betreibe einen ehrlichen Imbiss, für Leute, die keine Zeit zum Kochen haben
oder keine Küche.«
»Was regst du dich so auf, Fred? Mir ging es doch nur um den Namen
deiner Bude.«
»Ich weiß schon, nur der Name.« Mein Gott, er war wirklich wütend.
Unter den zurückgekämmten Haarsträhnen warf seine Stirn wilde Falten. »Nur der Name,
klar. Seit über zehn Jahren stehe ich hier unten im Hasenleiser, und ich kenne meine
Leute. Darauf kommt es doch an, oder?«
»Sicher.«
Missmutig kramte er seinen Tabakbeutel hervor. Während er sich eine
neue Kippe rollte, herrschte Schweigen. Ich zerbrach mir den Kopf, warum der Kerl
bei diesem Thema so empfindlich reagierte, fand aber keine Antwort. Auf dem Parkplatz
kam einer der Kriminaltechniker in Sicht, stieg aus seinem Overall und wischte sich
den Schweiß von der Stirn.
»Meine Oma«, brummte Fred schließlich, »hat den Imbiss nach dem Krieg
aufgemacht. Damals stand er in Neuenheim auf der Neckarwiese, mit diesem gottverdammten
Blick aufs Schloss. Trotzdem Zufall, der Name. Sie hätte ihn auch anders nennen
können, irgendwas mit Neckar zum Beispiel. Oder Annis Imbiss, egal. 50 Jahre lang
hat sie das Ding betrieben, hörst du, 50 Jahre lang. Eine Woche nach dem Jubiläum:
Schlaganfall.«
»Und dann?«
Ȇbernahm ich die Bude. Aber die Stadt hatte was dagegen. Der Pachtvertrag
sei auf meine Oma ausgestellt und nur auf sie; wenn ich den Imbiss weiterführen
wollte, müsste ich woanders hin. Eine Genehmigung für die Neckarwiese gab es nicht
mehr.«
»Deshalb bist du hierher.«
»Erst in die Südstadt, zu den Amis. Aber dort gab es nur Ärger. Also
nach ein paar Jahren wieder Aufbruch und einen neuen Standort gesucht.« Ein Krümel
Tabak war ihm zwischen die Lippen gekommen; er schnippte ihn fort. »Hier
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