Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
nutzen.
Wo hatte die Leiche gelegen? Ich versuchte mir die gestrige Szene vorzustellen:
Zwei Personen tragen einen 70-Kilo-Mann, wuchten ihn an der demolierten Stelle über
den Zaun, um ihn an Ort und Stelle fallen zu lassen. Dort drüben also. Winnetou
und Old Shatterhand hätten mir Schallmos exakte Position noch in zwei Wochen nennen
können, ich dagegen sah bloß Gestrüpp und Unkraut, das sich nach Ende des nächtlichen
Regens längst wieder aufgerichtet hatte. Aber wenn das Handy irgendwo hier auf den
Boden gefallen war, würde ich es finden. Gebückt verließ ich mein Nussbaumversteck
und machte mich auf die Suche.
Jenseits des Zaunes flatterte das Absperrband im Wind. Aus Bökers Haus
kam kein Geräusch. Mit beiden Händen wühlte ich zwischen den Pflanzen herum, bog
Zweige zur Seite, zerteilte Grasbüschel. Was für ein Dickicht musste hier erst im
Sommer herrschen! Dafür sogen sich jetzt meine Schuhe voll Wasser. Kurzer Kontrollblick
zum Parkplatz. Niemand beachtete mich. Auch nicht, als ich einen unterdrückten Fluch
hören ließ. Ich hatte in etwas Stachliges gegriffen, eine Art Wiesenkaktus. Warum
kümmert sich keiner um den Garten des alten Mannes? Hatte der keine Kinder, Enkel?
Nach und nach arbeitete ich mich zum Zaun hin. Systematisch vorgehen,
Max! Schade, dass ich Schallmos Nummer nicht hatte. Ich hätte sein Handy anwählen
können. Da würden sie aber schauen, die Herren Kriminaltechniker, wenn plötzlich
›I’m singing in the rain‹ aus einem verlotterten Grundstück neben dem Tatort erklang!
Und dann fand ich es. Ein kleines, altmodisches Klapphandy von Samsung.
Fast wollte ich nicht glauben, dass dieses unscheinbare Ding einem Frauenaufreißer
wie Thorsten Schallmo gehört haben sollte. Es lag unter einem Gewirr von hohem Gras
und Brombeerranken. Als ich im Gefühl des Triumphes danach griff, schnappte eine
der Ranken zu und gab mich nicht eher frei, bis sie eine blutige Spur über meinen
Handrücken gezogen hatte.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte ich los. Eine Spur zu laut, wie mir ein
Blick über den Parkplatz bewies. Ein paar Männer schauten in meine Richtung, darunter
einer mit dichtem, dunklem Haar und einer Stirn wie die Berliner Mauer. Der Rottweiler!
Kommissar Greiner höchstpersönlich. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er vergeblich
zu erkennen, wer sich hinter der gebückten Gestalt im Grünen verbarg. Rasch ein
zweiter Griff nach dem Telefon, diesmal vorsichtiger und mit der anderen Hand. Ohne
weitere Verletzungen zog ich es ans Tageslicht. Ich klappte es auf – und hätte fast
einen Jubelschrei ausgestoßen. Es war noch an! Der Akku würde zwar bald schlappmachen,
aber vielleicht passte Christines Ladegerät. Sie besaß ebenfalls ein altes Samsung-Handy.
Und jetzt nichts wie weg. Vom Parkplatz aus glotzte der Rottweiler
immer noch zu mir herüber. Ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete: nachschauen
oder nicht nachschauen? Und tatsächlich, da schlenderte er los. Beide Hände in den
Hosentaschen, ohne Eile. Bloß mal nach dem Rechten gucken.
Na, mir sollte er dabei nicht über den Weg laufen. Ich drehte mich
um, immer noch in gebückter Haltung, und wollte mich davonstehlen. Doch da hatte
jemand etwas dagegen.
»Brauchen Sie ein Pflaster?«, fragte der alte Böker mit hoher Stimme.
Da stand er, der Hausherr, ein dünnes, langes Männchen, dem die weißen
Haare einzeln um den Kopf wehten. Wer sonst sollte es sein? Hinter einer dicken
Brille irrten helle Augen hin und her, seine Haut war von Altersflecken übersät.
Und zu Strickjacke, Hemd und Leinenhose trug er Pantoffeln, gegen die sogar Freds
Treter wie der letzte modische Schrei wirkten.
»Entschuldigung«, sagte ich und schob mich, mit dem Rücken zum Parkplatz,
in den Schatten des Nussbaums. »Ich habe hier was verloren.«
»Wenn Sie ein Pflaster brauchen«, wiederholte er, »kann ich Ihnen eines
geben.« Die Tatsache, dass ein Fremder in seinem Garten stand, schien dem Alten
völlig schnuppe.
»Danke, ist doch nur ein Kratzer.«
»Drinnen, da habe ich Pflaster.« Ein trauriges Lächeln huschte über
sein Gesicht. »Hier wächst alles zu. Der ganze Garten. Ich schaffe es einfach nicht
mehr.«
»Hm«, machte ich, während ich einen Blick über die Schulter warf. Der
Rottweiler kam näher.
»Und dann der Zaun, haben Sie es gesehen? Das waren Betrunkene, letzten
Herbst. Wie soll ich den reparieren, in meinem Alter?«
»Ja, ja«, sagte ich hastig. Nur weg von hier, bevor mich Kommissar
Greiner
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