Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
in den Kopf, dass all dies zusammenkam:
der Hass, die Gelegenheit und die tödlichen Schüsse auf dem Parkplatz vor dem Schlossblick.
Herrgott, es waren doch Kinder! Sie beschmierten Turnhallenwände, ein ganz Verwegener
langte seinem Lieblingsfeind auch mal eine – aber Mord? Im Dunkeln auf einem verlassenen
Sportgelände warten, bis ihr Hassobjekt Schallmo vorbeikam, und dann abdrücken?
Nee, Leute, nicht mit mir. Ich schwör!
Drüben knutschten zwei. Ich erkannte das frühreife Mädchen aus Schallmos
Klasse, das einen gegelten Blondhaarigen mit einer Routine wegsaugte, dass man nur
staunen konnte. Oder neidisch werden. Fikret jedenfalls stand umringt von einigen
Freunden nicht weit entfernt und warf dem Paar einen verächtlichen Blick zu. Ein
anderer Junge griff dem Blonden im Vorbeiflitzen von hinten zwischen die Beine.
Das Mädchen zeigte ihm den Mittelfinger.
Eifersucht, ja, das konnte ich mir schon eher vorstellen. So stand
es doch in jedem Ermittlerhandbuch: Eifersucht als nicht nur starkes und einschneidendes
Gefühl, sondern vor allem als zielgerichtetes. Und zwar in jeder Lebensphase. Da
ging es ans Eingemachte: er oder ich. Der Schallmo nimmt mir die Freundin weg! Dieser
geile Opa fummelt an meiner Banknachbarin rum, ausgerechnet der! Scheiß auf Moral,
ich blas ihn um! Der muss von der Erde verschwinden, ein für allemal! Wenn der weg
ist, wird alles wieder gut …
Ja, so in der Art. Hass auf die Schule war immer eine Spur vage. Niemals
nur auf einen Lehrer gerichtet, sondern stets auf das Große und Ganze. Im Extremfall
mochte das zum Amoklauf führen, zur Abrechnung mit allem, auch mit sich selbst.
Eifersucht dagegen war konkret, war auf die Vernichtung des Gegners angelegt. Und
Schallmo mit seinen Frauengeschichten hatte den idealen Gegner abgegeben.
Aber um welche Frau ging es? Nadja? Die anonyme
Verfasserin der SMS? Seine aktuelle Freundin? Vielleicht steckte hinter allen dreien
ein und dieselbe Person. Wie auch immer, in diese Richtung musste ich weiterermitteln.
Ich blieb noch eine ganze Weile auf der Mauer
sitzen. Es war warm in der Sonne. Irgendwo über dem Atlantik rotierte ein bärenstarkes
Hoch und schubste milde Luft nach Mitteleuropa. Aus den Zweigen lugten die ersten
vorwitzigen Knospen. Wenn schon der Winter kein echter Winter gewesen war, wie alle
behaupteten, wurde es vielleicht wenigstens mit dem Frühling was. Ich hätte nichts
dagegen.
Genug gefaulenzt, die Arbeit rief. Ich sprang
auf die Füße. Längst waren die Schüler wieder in ihren Klassenräumen verschwunden,
der Hof hatte sich geleert. Steve Bungert stand jetzt vor seinen Kids und achtete
darauf, dass jeder Sägespan auf seinem T-Shirt wahrgenommen wurde. Von Brutsch keine
Spur.
Als ich zu meinem Fahrrad kam, fiel mir der Zettel, der am Gepäckträger
klemmte, sofort auf. Im ersten Moment dachte ich an Werbung. Im zweiten nicht mehr.
Es handelte sich um ein in der Mitte gefaltetes DIN-A4-Blatt: der Ausdruck eines
ziemlich grobkörnigen Fotos, das ein junges Mädchen zeigte. Darunter stand mit dickem
Filzschreiber: ›SCHALLMO HURE!‹
Mein nächster Blick galt – komisch, aber es war so – meinem Fahrrad.
Als ob ich fürchtete, der Filzstiftkrakler könne sich an Max Kollers Fortbewegungsmittel
Nummer eins vergangen haben. Nur so, nebenher und zum Spaß, oder um zu unterstreichen,
welche Wut ihn trieb. Wie auch immer, meine Furcht war unbegründet. Vorn am Lenker
fletschte die Hupe ihre Teufelszähne, beide Reifen strotzten vor Luft, und sogar
die Pumpe, die ich diesmal am Rahmen vergessen hatte, war noch da.
Schallmo Hure – zwei Worte, krauser Sinn. Ich drehte den Zettel um,
stellte ihn auf den Kopf, hielt ihn dicht vor die Augen. Hübsches Ding, dieses Mädchen.
18 Jahre vielleicht, schwarze Haare, energisches Kinn, markante Nase. Eine Hauptschülerin?
Den Dämchen, die ich vorhin beobachtet hatte, glich sie überhaupt nicht. Vom Stil
her ganz anders, auch wenn das jetzt seltsam klang. Schade, dass das Foto nicht
schärfer war. Außerdem zeigte es die Unbekannte nicht im Porträt, sondern aus einiger
Entfernung, als sie gerade über den Bürgersteig schlenderte.
War das eine von Schallmos Freundinnen? Seine aktuelle womöglich? Die
Hure des Lehrers, wie mir der Anonymus zu vermitteln suchte? Dass Schallmo selbst
mit der Hure gemeint war, machte vielleicht grammatikalisch Sinn, inhaltlich eher
nicht. Falls man einer Zweiwortbotschaft überhaupt mit Instrumenten der Grammatik
zu Leibe rücken
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