Schlossblick: Kollers fünfter Fall (German Edition)
ich wüsste. Wegen der Verletzung damals beim 400-Meter-Lauf
ist er gleich zum Orthopäden gerannt. Beziehungsweise gehumpelt. Da war aber nichts.
Überhaupt würde ich von seinen Fehlzeiten nicht auf Krankheiten schließen.«
»Du hast ihn wehleidig genannt.«
»Auch das hat etwas mit Autorität zu tun. Wenn ich eine neue Klasse
übernehme, stelle ich mich vor sie und sage: Leute, ich bin immer da für euch. Jeden
Tag, hört ihr? Und wenn sie dann sehen, dass ich mich auch mit 40 Grad Fieber in
die Schule schleppe, um nicht wortbrüchig zu werden, nehmen sie mich ernst.«
»Soll heißen, du hast noch nie gefehlt?«
»Nicht einen Tag«, sagte Steve.
Ich glaubte es ihm aufs Wort.
10
Ich hatte ganz vergessen, Steve Bungert danach zu fragen, was Frau
Hufschmidt, die Rektorin, über mich und mein eigenmächtiges Vorgehen von gestern
früh dachte. Womöglich war sie nicht ganz einverstanden damit. Und ob ich durch
meine grandiose Wurzelaktion bereits wieder ausreichend Bonuspunkte gesammelt hatte,
stand in den Sternen.
Also verbrachte ich die nächste Viertelstunde nicht auf der Bank mitten
im Schulhof, sondern auf einem Mäuerchen neben der Hausmeisterwohnung. Von dort
übersah ich einen großen Teil des Freigeländes und konnte gleichzeitig meinen Gedanken
nachhängen.
Steve hatte sich noch nicht verabschiedet, als die ersten Schüler schon
in die Pause strömten. Es waren Grundschüler, deren Freiheitsdrang sie wie Flipperkugeln
von einer Seite des Hofs zur anderen schießen ließ. Vor dem nächsten Schwall staute
und klumpte es sich an den Türen. Energie pur! Die Hauptschüler kamen ganz anders:
gemessener, abgeklärter, gelangweilt. Hände in den Hosentaschen, Schultern hochgezogen,
Schirmmütze falsch herum aufgesetzt. Schlurf, schlurf. Bloß keine überflüssigen
Bewegungen! Wenn sich zwei im Vorbeigehen begrüßten, nahmen sie eine Hand aus der
Tasche, aber nur kurz, um den anderen auf Hüfthöhe abzuklatschen. Vielleicht noch
ein kleiner Schulterrempler, das war’s. Wozu großartig Worte machen?
Wieder anders die Türken. Sie tänzelten auf den Schuhspitzen, wippten
vor und zurück, zeigten geschmeidige Gesten. Auch das Begrüßungsritual war aufwändiger:
Hand aus der Jacke, weit ausholen und in der Luft gegeneinander sausen lassen. Dann
die Umarmung, Brust rieb an Brust. Breithüftig eingehakt die Mädchen, Kunstprodukte
von den blondierten Haarsträhnen über die Nasenringe bis zum schreiend grellen Nagellack.
Küsschen hier, Küsschen da. Kein Blick für die umherwuselnden Grundschüler.
In einer Gruppe von Jungs rauften zwei. Nur zum Spaß natürlich, die
eigene Kraft wollte ausprobiert werden. Ellbogen in die Seite, ein Tritt gegen den
Hintern, zack, zack, Knüffe und Boxhiebe. Dann wälzte sich der eine auf dem Boden,
die anderen lachten sich schlapp, bis sie merkten, dass er sich tatsächlich wehgetan
hatte. Sicherheitsabstand: Alles bewegte sich im Kreis um den Kumpel, gehörte nicht
wirklich dazu, war keinesfalls verantwortlich. Gleichzeitig immer wieder Anteilnahme,
Neugier, Kontakt. Jetzt rappelte er sich hoch, bekam eine helfende Hand gereicht,
beschwerte sich. Irgendeiner hatte zu fest gedroschen! Du warst das! Ich doch nicht!
Der da! Dir zeig ich gleich, wie es tut, wenn ich wirklich mal zuhaue! Ein Lehrer
schritt ein, erkundigte sich. Nix passiert, Herr Soundso, geht schon. Wir tun nur
so.
Ja, sie taten nur so. Der will doch bloß spielen! Freilaufende Hunde,
Speed in der Gesäßtasche, Pistole unterm Kopfkissen. Die tut auch nur so. Spielzeugpistole.
Und dann krachte es, ganz spielerisch, und ein Lehrer lag blutend auf dem Asphalt.
Der tut nur so. Der tat aber nicht so, der Schallmo. Der war wirklich
tot, voll real. Krass, ey.
Ich kratzte mich ausgiebig am Kopf, um meine Einbildungskraft in Gang
zu setzen. Doch der Motor stotterte. Irgendwie passte dieser Mord nicht zu Schülern,
da konnte ich mir noch so viele Szenarien ausmalen. Man hasst einen Lehrer, okay.
Man hasst ihn, weil er ein Feigling ist, ein Trickser und Weichei. Man will ihm
mal so richtig eins auswischen. Der Kerl hat mir eine Fünf gegeben, die alte Sau!
In Ethik. Wo er selbst rumhurt bis zum Infarkt. Klar, die Wut ist da. Und dann hat
man Kontakt zu Waffen. Irgendwie, über Ecken. Der Papa vom Sigurd ist Sportschütze
und sperrt seinen Schrank nie ab. Tareks großer Bruder prahlt mit einer Knarre.
Dem Brutsch seine Drogenlieferanten handeln auch mit Pistolen.
Ja, möglich.
Und trotzdem wollte mir nicht
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