Schlüsselherz (German Edition)
war sich sicher, Erkennen im Gesicht des Mannes auszumachen.
„ Wohin darrrf‘s geh‘n, guterrr Mann?“, rief der Kutscher und ve r riet seine Waliser Herkunft durch stark rollende R.
„ Zum Theater der Witwe Macallistor. Ist Ihnen das ein Begriff?“
„ Sicherrr doch.“ Über den Umstand, dass es ein Puppentheater in fünfzig Metern Entfernung gab, zuckte der Kutscher zwar die Schu l tern, sagte allerdings nichts, was seine Tour in Gefahr bringen kön n te. „Steigen Sie ein, Mr Beazeley.“
Also kannte er ihn tatsächlich. Zum Henker noch mal!
Doch Valender vergaß die Sorge um seinen Vater gleich wieder, als er Cera in die Kutsche half, einstieg und die Tür hinter sich schloss. Das Innere des zum Pferd passenden stählernen Wagens war gerä u mig, und sie saßen sich mit mehr Abstand gegenüber als im Pub. Doch alle Geräusche blieben ausgeschlossen, und Valender bekam das Gefühl, so eng mit Cera auf einem Raum zu sein wie nie zuvor. Mit sanftem Schaukeln fuhr der Wagen an und beide brüteten in beklommenem Schweigen vor sich hin.
„ Man spürt kaum Erschütterungen“, sagte Cera irgendwann mit einer so ernsten Stimme, als machte sie eine polarisierende politische Überzeugung zum Thema.
Valender überlegte lange an einer Antwort, die sie beeindrucken würde, wie etwa 'Tatsächlich nicht; das liegt an der hydropneumatischen Fed e rung, einem modernen Ölpolsterfederungssystem' aber entschied sich dann, etwas zu sagen, das viel wichtiger war.
„ Cera, ich will dir keinesfalls zu nahe treten, aber … diese Wunden … werden sie heilen?“
„ Sobald ich damit zu einem Puppenmacher gehen kann, werde ich es tun. Es gibt Techniken, um Beschädigungen der Haut zu repari e ren, die nicht einmal Spuren hinterlassen. Doch Puppenmacher sind selten vertrauenswürdig, daher muss ich damit warten, bis unser Fall aufgeklärt ist, damit ich keine Probleme bekomme.“
„ Verstehe. Erlaube mir noch eine Frage. Schmerzt es?“
Ihre Augen weiteten sich erstaunt, dann spielte sich ein feines, aber nicht unbedingt glückliches Lächeln in ihre Mundwinkel. „Wir haben funktionierende Nerven, Valender. Aus Messing, Kupfer und Silber, je nach Funktionsweise, aber sie sind nicht weniger störanfällig als biologisches Gewebe. Würde es nicht schmerzen, müsste ich davon ausgehen, dass irgendetwas kaputt ist.“
Er hatte eine andere Antwort erhofft und wusste nichts zu erw i dern.
„ Sorgen Sie sich nicht“, bat Cera. „Ich bin froh, dass ich fühlen kann. Darf ich Ihnen etwas erzählen?“
„ Bitte, nur zu.“
„ Als wir jung waren, meine Schwestern und ich, da haben wir uns häufig gefragt, ob unsere Empfindungen von den menschliche n a b weichen mögen. Wir haben experimentiert, vor allem Esra und ich, während Yasemine zu denen gehörte, die allenfalls Schmiere sta n den. Sie hätte nie etwas getan, was die Keymans verboten h a ben.“
Valender musste schmunzeln. „Und Selbstversuche waren verb o ten?“
„ Strengstens“, lachte Cera. „Aber wir konnten damit einfach nicht aufhören. Wir waren so neugierig. Kennen Sie das Gefühl, einen Topf kochendes Wasser vor sich zu haben und Neugier zu fühlen, wie es wohl ist, die Hand hineinzuhalten? Neugier, wie es sich anfü h len mag, wenn die Haut verdorrt, das Fleisch verbrennt und sich i r gendwann vollkommen zerstört von den Knochen löst?“
„ Um Himmels willen, nein.“ Doch um ehrlich zu sein, kannte Va l ender das Gefühl sehr gut. Als er nach der Auflösung seines Reg i ments mit dem Luftschiff nach London zurückgereist und in dre i hundert Metern Höhe über die Stadt gefahren war, da hatte sich ihm die Frage aufgedrängt, wie es wohl sein würde, zu fliegen. Zu fallen. Es war kein Wunsch zu sterben – nichts lag Valender ferner. Es war bloß die Frage, wie es wohl sein würde …
Er erinnerte sich an ähnliche Fragen und entsetzte Gesichter seiner Eltern. Irgendwann hatte er gelernt, seine Wissbegierde, manche Fragen betreffend, niemanden erfahren zu lassen und sie sich schließlich zu verbieten und zu vergessen. Es gehörte sich einfach nicht.
Außerhalb des Empires, in manchen unabhängigen Staaten, gab es Jahrmarktattraktionen, die diese Fragen beantworteten. Gerätscha f ten, mit denen sich Menschen in den Himmel schießen oder in die Tiefe stürzen konnten, ohne dass sie sich dabei nur einen blauen Fleck zuzogen. Doch ein Brite wusste, dass Adrenalin ein gefährl i cher Suchtmacher war, und wandte den Blick ab, wenn die Sprache
Weitere Kostenlose Bücher