Schlüsselherz (German Edition)
wünsche noch einen wunderschönen Tag.“
„ Ihnen dasselbe, Mr Charles. Aber was ist denn mit der Rechnung? Soll ich es anschreiben?“
Nathaniel winkte dem Wichtigtuer noch einmal freundlich zu. „Heute nicht, my dear. Mein Großvater, der Gute, hat die Spendie r hosen an und zahlt für uns beide.“
Liebste Melissa,
ein paar Tage lang habe ich dir nicht geschrieben. In meinem Kopf fühlt es sich wirr an. Ein Durcheinander aus Gedanken, die nicht in die von mir angedachte Richtung gehen, sondern immer nur zu einer Person.
Nein, Melissa, diesmal nicht zu dir. Sei dir gewiss, ich denke noch oft genug an dich, aber immer wieder noch an jemand anderen.
Du kennst sie.
Und es grämt mich, denn du würdest dich so für mich freuen, wenn ich erzählte, um wen es sich handelt, denn es ist jemand, den du magst. Sie bringt dich zum Lachen und ich stelle mir vor, wie sehr du lachen würdest, nähme ich vor deinen Augen ihre Hand …
Die Fantasie geht mit mir durch, Melissa.
Soeben – sie hatte kaum die Tür hinter sich ins Schloss gezogen – zuckten magische Flammen in meinen Handflächen und versengten mir das Hemd und eins der guten Handtücher. Ich weiß nicht, wie lange ich noch unter Verschluss halten kann, dass sich ungewollte Kräfte in mir ballen, die ich nicht haben dürfte. Ich begreife es nicht. Ich will es gar nicht begreifen.
Die meisten meiner Briefe an dich verwahre ich sorgsam, darauf hoffend, dass du sie eines Tages lesen kannst. Diesen, meine liebste Schwester, werde ich dem Feuer aus meinen Händen übergeben, während die Tinte noch feucht ist. Zu groß ist meine Sorge, jemand könnte mein Geheimnis in Erfahrung bringen.
Es wäre mein Ende, Melissa, denn Vater könnte mich nicht länger als seinen Sohn betrachten und das würde bedeuten, dass ich auch meine kleine Schwester verliere. Dich.
Dennoch fällt es mir zunehmend schwerer zu verbergen, was die Wahrheit ist. Vor mir selbst kann ich es nicht länger verstecken. Ich muss akzeptieren, um es ändern zu können; nur aus diesem Grund schreibe ich es aus.
Ich bin ein Magischer.
Und ich bin verliebt. In die Tanzpuppe Cera.
Was soll ich tun, Melissa.
Was soll ich nur tun?
Dein ratloser, dummer Bruder
Valender
Kapitel XII
Cera betrat das Foyer der London Times und sah sich um. Die wei t räumige Eleganz schüchterte sie ein. Der helle Terrazzoboden blitzte vor Sauberkeit und auf den Stehtischen, an denen die Besucher wa r ten konnten, standen filigran gearbeitete Vasen mit langstieligen R o sen, die sicher umkippten, wenn man den Tisch nur anatmete.
Zum Glück musste Cera nicht warten, sondern konnte gleich zur Information vortreten. Eine sehr junge Frau in einem pistazienfa r benen Kostüm begrüßte sie freundlich.
„ Willkommen bei der Times, verehrte Dame. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Cera erwiderte das Lächeln nervös. „Ich bin auf der Suche nach einem Ihrer Mitarbeiter.“
„ Ein Redakteur?“
„ Wohl eher ein freier Reporter. Ich habe bereits die KSS-Plattform Ihres Hauses angesehen, dort ist er nicht gelistet.“
Die Dame nickte verständnisvoll. „Wie lautet denn der Name.“
„ Mr Nathaniel Charles.“
„ Nathaniel …“ Die Frau hielt inne, berührte nachdenklich ihre Unterlippe mit dem langen, pistaziengrünen Nagel des Zeigefingers und zog dann, als ihr die Erleuchtung kam, woher sie den Namen kannte, die Stirn kraus. „Der Maler? Der arbeitet nicht für uns.“
„ Sind Sie sicher?“
„ Wenn wir von demselben Mann sprechen“, sagte die Dame, „di e sem exzentrischen Künstler, der immer wieder Skandale verursacht, dann bin ich absolut sicher.“ Sie bleckte in einer erotisch angedeut e ten Weise die Zähne wie eine knurrende Tigerin. „Das wüsste ich.“
„ Eigenartig.“ Cera war ratlos. Die Zeitung in ihrer Tasche sagte etwas anderes. Oder hatte dieser N-Punkt-Charles mit Nathaniel vielleicht gar nichts zu tun? Charles war ein häufiger Name in Lo n don.
„ Ich kann gern noch eine Kollegin fragen“, meinte die Dame. O f fenbar war sie neugierig geworden. „Ich bin ja noch nicht lange hier. Bitte warten Sie einen Moment.“
Sie eilte davon. Cera blätterte derweil einen Stapel älterer Times-Ausgaben durch, auf der Suche nach … ah, da war sie ja, die Ausg a be, in der Nathaniels Beitrag gedruckt war. Oder auch nicht. Cera bekam eine vage Ahnung, als sie die Ausgabe an sich nahm. Die T i telseite zeigte ein grausiges Bild von einem geschändeten Grab. Man konnte bis
Weitere Kostenlose Bücher